Vor 50 Jahren: Lawinenkatastrophe in Gerlos
Zehn Mitglieder der DAV-Sektion Bad Aibling sterben beim Aufstieg zur Kirchspitze
Es war eines der schwersten Lawinenunglücke im Alpenraum. Zehn Mitglieder der DAV-Sektion Bad Aibling verloren bei einer Skitour in Gerlos am 4. Februar 1973 ihr Leben. ovb-online.de berichtet in einer siebenteiligen Serie über die Tragödie von damals und sprechen mit Zeitzeugen.
Bad Aibling/Gerlos - Es ist ein Sonntag, als sich 25 Bergfreunde der Sektion Bad Aibling gutgelaunt und in freudiger Erwartung auf eine schöne Skitour auf dem Gelände der Bad Aiblinger Ausstellungshalle in der Krankenhausstraße treffen. Um 6.30 Uhr steigen sie in den Bus, der sie nach Gerlos im Tiroler Zillertal bringt. Dort starten sie ihre Wanderung zur 2312 Meter hohen Kirchspitze, die bei kaltem, aber schönem Winterwetter für zehn von ihnen mit dem Tod endet.
Zwei Tourengeher schwer verletzt
Tourenleiter Helmut Maier (51), Hanne Gall (33), Zenta Göppenhammer (42), Geromar Polle (45) und seine Söhne Richard (18) und Robert (16), Johann Hausner (41), Joseph Sporrer (34), Richard Albrecht (34) und Josef Eisner (36) verlieren bei dem Lawinenunglück ihr Leben. Zwei Tourengeher werden schwer verletzt und nach ihrer Rettung mit einem Hubschrauber ins Krankenhaus geflogen. Eine Frau aus dem Kreis der Ausflügler und ihre Tochter waren im Tal geblieben und hatten von der Tragödie am Berg zunächst gar nichts mitbekommen.
Dokumentation über das Unglück
Es ist etwa 11.30 Uhr, als das Unheil seinen Lauf nimmt. Diese Uhrzeit hält Sebastian Dengler, der zu den Schnelleren in der Gruppe zählt und deshalb zum Unglückszeitpunkt als sogenannter Spurenleger fungiert und vorausgeht, in einer Dokumentation zu dem Unglück fest. Seine Aufzeichnungen sind wesentlicher Bestandteil des Jahresberichts der Bad Aiblinger Alpenvereinssektion, in dem an das tragische Geschehen erinnert wird.
Zwei Tafeln weisen den Weg
Zwei Tafeln, jeweils mit der Markierungsnummer 7, weisen den Tourengehern demnach den Weg. „Ich hielt mich strikt an die Markierung. Selten habe ich eine so gute Markierung angetroffen“, notiert der damals 46-jährige Verwaltungsangestellte. Über den 2048 Meter hohen Arbiskogel wollen die Teilnehmer zur Kirchspitze gehen.
Oberhalb der Lackengrubenalm führt der Weg über einen leichten Rücken zu einer lichten Baumgruppe. Ein tiefer Graben hindert die Tourengeher laut Dengler daran, nach rechts Richtung Arbiskogel abzubiegen. Die Gruppe entschließt sich, weiter in Serpentinen nach oben zu gehen. Links liegen die Hänge, die zu den Braunellkögeln hinaufführen. „Bald war diese Stelle überwunden, und ich spurte nach rechts hinaus in die Sonne in flacheres und bewachsenes Gelände“, schreibt Dengler.
„Lawine! Lawine!“
Immer wieder schaut er im Zurückblicken nach seinen Kameraden. Die Hauptgruppe mit den etwas langsameren Tourengehern muss gerade in einem kleinen Wäldchen unterwegs gewesen sein, als ein weiterer Teilnehmer aus der Spitzengruppe den Spurenleger auf abgehenden Schnee von den Braunellkögeln aufmerksam macht. „Lawine! Lawine!“ Diese Warnung ruft Dengler nach eigenen Angaben den etwas weiter unten gehenden Vereinskameraden noch zu.
500 Meter Breite, 1200 Meter Länge
Die hören diese Warnung, und die meisten der Gefährdeten versuchen, sich noch in Sicherheit zu bringen und hinter Bäumen Schutz zu finden, ehe schier unvorstellbare Schneemassen Richtung Schönachtal donnern. Von 500 Metern Breite, 1200 Metern Länge und einer Geschwindigkeit von bis zu 200 Stundenkilometern ist in Medienberichten über die Tragödie die Rede. Im Lackengraben, wo die unter der Staublawine liegenden Opfer gefunden werden, türmt sich der Schnee bis zu vier Meter hoch.
Die meisten meiner Kameraden mussten unweigerlich von der Lawine genommen worden sein.
„Die Situation war sofort erfasst. Die meisten meiner Kameraden waren in dem Lawinenbereich und mussten unweigerlich von der Lawine genommen worden sein. Ich wies Bibi an (Anmerkung der Redaktion: Gemeint ist der Tourengeher Bibi Moser, der unterhalb der Lackengrabenalm zu Dengler aufgeschlossen hatte und fortan mit ihm an der Spitze der Gruppe ging), eine Position einzunehmen, von der aus er das gesamte Gelände einsehen und notfalls eine Warnung geben konnte, sofern noch einmal Schnee abgehen sollte“, hält Dengler in seinen Erinnerungen fest.
Noch mit den Steigfellen an den Skiern fährt er daraufhin in Richtung Lawinenkegel ab. Er trifft auf ein paar Kameraden, die sich noch rechtzeitig vor der Lawine schützen oder binnen kurzer Zeit aus ihr selbst befreien können. „Dann sah ich noch eine Hand aus dem Schnee ragen. Beim Versuch, daran zu ziehen, fing diese plötzlich an zu winken“, beschreibt der Spurenleger eine jener dramatischen Szenen, die sich kurz nach der Naturkatastrophe in der Tiroler Bergwelt abspielen. Später erfährt er, dass es die Hand einer jungen Frau war, die gerettet wird.
Ohne das ganze Ausmaß der Katastrophe zu diesem Zeitpunkt genau erkennen zu kennen, wird dem Spurenleger eines sehr rasch klar. Schnelle Hilfe ist erforderlich. „Dann bedeutete ich den Nächststehenden, dass ich Hilfe holen will, montierte die Steigfelle ab und fuhr, so schnell es ging, nach Gerlos ab. Kurz vor 12 Uhr traf ich dort beim Oberwirt ein. Über Telefon alarmierte ich die Bergrettung und das österreichische Bundesheer. Nach mehreren Rückrufen durch diese Stellen gab ich Anweisung, Lawinensuchhunde und Ärzte einzufliegen. Die Zahl der Verschütteten gab ich mit 10 bis 15 an“, schreibt Dengler in seinen Aufzeichnungen.
Gegen 13 Uhr hört er schließlich die ersten Hubschrauber, die direkt zur Unglücksstelle fliegen. Erst nach 14 Uhr nimmt ein weiterer Helikopter auch Dengler auf, der sich zwischenzeitlich vom Oberwirt aus dorfaufwärts zu einer Übungswiese begeben hatte, auf der die Maschinen landen können. Er wird zurück ins Unglücksgebiet geflogen, wo mittlerweile eine großangelegte Rettungsaktion angelaufen ist.
Vom Dorfgendarmen beschimpft
Zuvor hatte Dengler noch eine unliebsame Begegnung mit dem Dorfgendarmen Schipflinger, die er der Nachwelt nicht vorenthalten will. „Plötzlich kam ein Mann im Skipullover aufgeregt auf mich zu und schnauzte mich in einer ungehörigen Form zusammen. Was mir einfiele, den Rettungsdienst zu mobilisieren. Das sei schließlich Sache der örtlichen Rettungsorgane. Er faselte etwas von Zuständigkeiten. Als ich mir den Ton verbat, wurde der Fremde höflicher.“ Und weiter: „Dieser war so aufgeregt, dass er nicht wusste, was er zuerst tun oder fragen sollte. Ich traf ihn später wieder in der Gendarmeriestation, zu der mich der Oberwirt fuhr.“
Gedenkgottesdienst in Mariä Himmelfahrt
Sebastian Dengler starb übrigens vor wenigen Tagen im 97. Lebensjahr kurz vor dem 50. Jahrtag des Lawinenunglücks. Bei einem Gottesdienst in der Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt, der um 19 Uhr beginnt, will die DAV-Sektion Bad Aibling am Samstag, 4. Februar, der Opfer dieser Tragödie gedenken.


