Wie Hilfe in der Not funktioniert
Nach schockierendem Fund: Wie landen Findelkinder in Pflegefamilien? Was müssen sie bieten?
Als Ende Oktober ein 14 Monate altes Kind in einer Bad Aiblinger Reha-Klinik zurückgelassen wurde, sprang eine Pflegefamilie innerhalb von Stunden ein. Doch wer kann eigentlich Pflegekinder aufnehmen und was müssen die Familien vorweisen. Ein Blick hinter die Kulissen eines Hilfe-Systems.
Bad Aibling/Rosenheim – Die Nachricht, dass ein 14 Monate alter Bub Ende Oktober in dem Vorraum einer Aiblinger Rehaklinik allein zurückgelassen aufgefunden wurde, verbreitete sich schnell. Der Fall sorgte damals für viel Aufsehen und rückte die Arbeit des Jugendamtes in den Blickpunkt. Dieses hatte zusammen mit der Polizei sofort gehandelt, konnte die Familie des Kindes schnell ausfindig machen und ihm einen sicheren Ort zur Verfügung stellen. Bei einer Pflegefamilie, die sich innerhalb von Stunden bereiterklärte, das Kind aufzunehmen. Doch wie ist das generell eigentlich möglich und welche Anforderungen gelten für Pflegefamilien?
Dass ein Kind in diesem Alter irgendwo alleine abgestellt wurde, war auch für das Jugendamt ein außergewöhnlicher Fall, wie Leiterin Sabine Stelzmann gegenüber dem OVB kürzlich bestätige. Sorgen in der Öffentlichkeit doch meist Findelkinder im Babyalter für Aufsehen. Zugleich war man jedoch auch auf genau solch ungewöhnliche Vorkommnisse vorbereitet. „An diesem Sonntagmorgen hat das Zusammenspiel sehr gut geklappt“, sagt Stelzmann. Als der Anruf eingegangen war, habe man sachlich und routiniert versucht, sofort einen Platz zum Schutze des Kindes aufzutreiben.
104 Vollzeitpflegefamilien im Landkreis
Hier kämen neben stationären Einrichtungen vor allem Pflegefamilien infrage, „die überprüft sind und die Kinder temporär aufnehmen“, so Stelzmann. Und im Falle des Aiblinger Findelkindes sei bereits an besagtem Sonntag eine Familie gefunden worden, die den Bub am Montagvormittag von der Polizei abholen konnte. „Pflegefamilien sind für uns eine sogenannte Hilfe zur Erziehung“, erklärt die Leiterin des Jugendamtes. Wenn Kinder also aus diversen Gründen nicht mehr in ihrem Familienkontext leben können, ist die Behörde dazu aufgefordert, einen anderen Platz zu suchen.
Neben verschiedenen Kinderheimen gibt es im Landkreis Rosenheim insgesamt 104 Vollzeitpflegefamilien (Stand 1. Dezember). Zusätzlich stehen 18 Bereitschaftspflegefamilien zur Verfügung, die Kinder kurzfristig aufnehmen können, auch an Wochenenden und in den Abendstunden. „Wir gehen zunächst mit ihnen ins Gespräch und erfahren, wie ihre Erziehungshaltungen sind, wie das familiäre System aussieht, ob beide Eltern der Meinung sind, dass das geht.“ Auch die Frage, wie es die leiblichen Kinder aufnehmen, sei Teil eines langen Überprüfungsprozesses, erklärt Stelzmann das vorherige Eignungsverfahren.
„Bewerber müssen ein erweitertes Führungszeugnis vorlegen, adäquate materielle Verhältnisse für die Betreuung eines Pflegekindes nachweisen, die zeitlichen Ressourcen, personale und erzieherische Kompetenzen und eine geeignete, stabile familiäre Situation vorweisen“, erklärt zudem Sibylle Gaßner-Nickl, Pressesprecherin des Landratsamtes auf OVB-Anfrage. Je nach Art und Dauer des Pflegeverhältnisses (Bereitschaftspflege, Vollzeitpflegeverhältnis auf Dauer) stünden hier unterschiedliche Anforderungen und Qualitäten im Vordergrund. Auch das Alter sowie die spezifischen, individuellen Bedürfnisse eines aufzunehmenden Pflegekindes spielten im Einzelfall eine Rolle, so Gaßner-Nickl. Potenzielle Pflegeeltern nehmen zudem an Qualifizierungsseminaren teil.
Wie lange springen Bereitschaftspflegefamilien ein?
Im Speziellen seien es die Bereitschaftspflegefamilien, die Kinder sehr kurzfristig und auch auf Zeit aufzunehmen, erklärt Stelzmann. „Das können zwei, vier, sechs Wochen oder drei Monate sein, bis sich die Ursprungsfamilie entweder stabilisiert hat oder die Kinder anschließend in einer anderen Pflegefamilie verbleiben oder in Heimerziehung gehen.“
Für das Jugendamt seien solche Bereitschaftspflegefamilien eine „große Ressource“. Sich innerhalb von wenigen Stunden dazu bereitzuerklären, ein Kind auf unbestimmte Zeit aufzunehmen, ein Zimmer zu bieten, Klamotten zu suchen, den Alltag umzustellen, sei nicht selbstverständlich.
Natürlich gibt es aber auch viele Ursprungsfamilien, die mit einer Inobhutnahme nicht einverstanden sind. Wenn jedoch der Schutz des Kindes dort nicht sichergestellt sei, gehe das Jugendamt ans Familiengericht, das die elterliche Sorge einschränken oder entziehen kann, sollten die Eltern nicht zustimmen, erklärt Stelzmann. Die elterliche Sorge wird dann durch einen Vormund weiter ausgeübt.
Warum müssen Kinder weg von der Ursprungsfamilie?
Doch warum kann es überhaupt so weit kommen? „Die Unterbringung von Kindern in Pflegefamilien erfolgt in der Regel aufgrund von Überforderungssituationen in den Herkunftsfamilien“, teilt Behördensprecherin Gaßner-Nickl mit. Die Gründe hierfür sind vielfältig und umfassen unter anderem Erkrankungen der Eltern, insbesondere psychische, familiäre und persönliche Krisen, herausfordernde Entwicklungsproblematiken der Kinder sowie Erziehungsschwierigkeiten, die aus der eigenen Sozialisation der Eltern resultieren können, so das Jugendamt.
Und wenn ein Kind dann letztlich bei einer Pflegefamilie untergekommen ist – wie geht es dann perspektivisch weiter? Laut Stelzmann finden regelmäßige Gespräche, unter anderem mit den leiblichen und den Pflegeeltern, statt. „Innerhalb eines Zeitkorridors von zwei Jahren sollte jedoch für eine Pflegefamilie geklärt sein, ob es sich um eine dauerhafte Unterbringung handelt beziehungsweise wie die Rückkehrbedingungen in die Herkunftsfamilie aussehen.“ In Fällen der Bereitschaftspflege, wie zuletzt der Aiblinger Bub, versuche man in der Regel jedoch noch schneller eine zukunftsfähige Lösung zu finden, sodass das Kind auch eine sichere Bindung aufbauen kann.
Werden die Familien finanziell unterstützt?
Tatsächlich freue man sich über weitere Pflegefamilien, sagt die Jugendamtsleiterin. „Es ist nicht selbstverständlich, Pflegeeltern zu sein, da man natürlich auch mit Einschränkungen leben muss, z.B. dann, wenn sehr spontan ein Kind aufgenommen wird, wie im Beispiel des Jungen.“ Bedarf herrsche immer und interessierte Eltern könnten sich jederzeit ans Jugendamt wenden. Im Übrigen gebe es auch Pflegeeltern, die keine leiblichen Kinder haben, auch gleichgeschlechtliche Paare sind unter den Pflegeeltern. „Sie alle werden von uns begleitet und unterstützt und es gibt auch ein großes Netzwerk unter den Pflegefamilien“, sagt Stelzmann.
Laut dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend steht Pflegeeltern ein monatliches Pflegegeld zu, das vom Jugendamt ausgezahlt wird. Pflegegeld gibt es für Pflegekinder unter 18 Jahren, unter Umständen auch für Pflegekinder bis zum 21. Geburtstag, im Einzelfall bis zum 27. Geburtstag. Dies, so das Bundesministerium, richte sich nach dem individuellen Unterhaltsbedarf. Mit dem Geld sollen Kosten für Verpflegung, Unterkunft, Bekleidung und weitere Bedürfnisse gedeckt werden. Der Betrag enthält auch einen Anteil für den Erziehungsaufwand.