Eines von Millionen Opfern des Nationalsozialismus
Häftling 12230 aus Mitterhart: Matthias Stich wurde im KZ Mauthausen zu Tode gequält
Das Kolbermoorer Rathaus ist trauerbeflaggt. Am Freitag, 27. Januar, wird der Opfer des Nationalsozialismus gedacht, zu denen auch Mathias Stich aus Mitterhart gehört. Er starb im Konzentrationslager Mauthausen. Erst jetzt wurden seine Spuren entdeckt.
Kolbermoor – In Kolbermoor verband sich mit diesem Gedenktag bislang der Name des italienischen Zwangsarbeiters Fortunato Zanobini, der im KZ Bergen-Belsen umkam. Jetzt wurde ein weiteres Opfer bekannt: Matthias Stich aus Mitterhart. Er starb 1943 im Alter von 34 Jahren im Außenlager Gusen des Konzentrationslagers Mauthausen. Seine Spuren entdeckte der Historiker Christoph Wilker aus Unterhaching.
Holocaust fordert 17 Millionen Opfer
2005 hat die UNO den 27. Januar – den Tag, an dem die Rote Armee 1945 das Konzentrationslager Auschwitz befreite – zum internationalen Gedenktag erklärt. Seitdem wird weltweit der Millionen Opfer des Nationalsozialismus gedacht – darunter sechs Millionen Juden und 1800 Zeugen Jehovas.
Jehovas Zeugen ab 1933 im Visier der Nazis
„Jehovas Zeugen lehnten die Ideologie der Nazis und alle politisch motivierten Aktionen ab, darunter den Parteieintritt, den Eid auf Hitler und den Hitlergruß. Dadurch gerieten sie schon 1933 ins Visier der Gestapo“, erinnert Simon Bödecker, Regionaler Sprecher Bayern der Zeugen Jehovas, an das Schicksal seiner Glaubensbrüder: „Sie verweigerten bedingungslos menschenverachtende Hasstaten gegen ihre Mitmenschen, die sich in dieser Zeit besonders gegen Juden richteten. Sie verweigerten nach Kriegsausbruch 1939 auch den Dienst an der Waffe.“
Standhaft im Glauben bis in den Tod
Und sie widersetzten sich dem staatlichen Verbot ihrer Religionsausübung, das im April 1933, nur drei Monate nach der Machtergreifung Hitlers, verhängt wurde. „Viele Zeugen Jehovas, die damals noch Bibelforscher genannt wurden, haben trotz der Gefahren für ihr Leben nicht damit aufgehört, dem Neuen Testament zu folgen und zu verkündigen“, weiß Christoph Wilker, Mitglied im Verband der Historiker Deutschlands.
Er beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Verfolgung und dem Widerstand der Zeugen Jehovas im Dritten Reich. Im NS-Dokumentationszentrum München zeigte er 2019 eine Sonderausstellung zu diesem Thema. Er veröffentlichte zudem zahlreiche Fachaufsätze und Bücher. In seinem jüngsten Werk „Die unbekannten Judenhelfer“ berichtet er darüber, wie Zeugen Jehovas im Nationalsozialismus jüdischen Mitmenschen beistanden.
Gerichtsakten informieren über den Widerstand
Wilker forscht in Archiven, spricht mit Zeitzeugen. Und so stieß er im Staatsarchiv München auch auf die Spuren von Mathias Stich aus Mitterhart, der 1907 in Arget (Gemeinde Sauerlach, Landkreis München) geboren wurde.
Schon am 15. September 1933 – mit 26 Jahren – verurteilte ihn das Amtsgericht Rosenheim erstmals zu einer Gefängnisstrafe von einem Monat. „Im September 1936 wurde der 29-Jährige erneut verhaftet, weil er sich nicht an das Verbot der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas gehalten und weiter verkündigt hatte“, berichtet der Historiker Wilker. Im Strafgefängnis Stadelheim verbüßte er ab dem 6. Oktober 1936 eine „Schutzhaft“, ehe er am 27. März 1937 vor dem Sondergericht München verurteilt wurde.
Drei Kolbermoorer auf der Anklagebank
„In der Anklageschrift wird der junge Mann als lediger Sohn von Josef und Maria Stich, von Beruf Zimmermann, zuletzt wohnhaft in Mitterhart 109/1/4 ausgewiesen“, rekapituliert der Historiker. Mit Stich auf der Anklagebank sitzen „in der gleichen Sache“ auch der 33-jährige Schuhmacher Alois Vinzenz aus der Aiblinger Au 3 1/3 in Kolbermoor und die 52-jährige „Invalidenrentnersfrau“ Anna Ziegloser aus der Von-Bippen-Straße 16 a in Kolbermoor sowie weitere Angeklagte.
Verurteilt zu acht Monaten Haft
Ihr weiteres Schicksal ist nicht bekannt, doch das von Mathias Stich: Am 27. März 1937 wurde er vom Sondergericht München verurteilt, weil er „seine Tätigkeit für die Vereinigung auch nach der Verurteilung (am 15. September 1933 – Anmerkung der Redaktion) nicht einstellte“.
Vielmehr habe er „bei allen sich bietenden Gelegenheiten beliebigen Personen ,gepredigt‘, das heißt, ihnen die Gedankengänge der verbotenen Sekte zugänglich und verständlich zu machen und sie damit zu werben versucht.“ Zudem, so heißt es in der Urteilsbegründung weiter, habe er „in seiner eigenen Wohnung Besprechungen mit Anhängern seiner ,Sekte‘ abgehalten, sie durch Spenden unterstützt“, sei „regelmäßiger Abnehmer von verbotenen Schriften“ und habe diese „an Glaubensgenossen weitergegeben“.
„Am 27. März 1937 wurde Mathias Stich zu acht Monaten Gefängnis verurteilt und am 26. Mai 1937 ins KZ Dachau deportiert, wo er fast zweieinhalb Jahre misshandelt wurde“, zeichnet der Historiker das Schicksal des jungen Mannes aus Mitterhart nach. In der Häftlingsdatei der Arolsen Archive, des weltweit größten Archivs über die Opfer und die Überlebenden des NS-Regimes in Bad Arolsen in Hessen, fand Wilker eine Häftlingskarteikarte: Darin wird die Deportation von „Sch“ (Schutzhäftling) und „Bifo“ (Bibelforscher) Matthias Stich – Häftlingsnummer 12 230 – am 27. September 1939 aus dem KZ Dachau ins Konzentrationslager Mauthausen in Österreich dokumentiert.
Mehr als 90.000 Menschen – darunter 140 Zeugen Jehovas – wurden im KZ Mauthausen und seinen Außenlagern von August 1938 bis Mai 1945 ermordet. Die bestialischen Haftbedingungen beschreiben Bertrand Perz und Florian Freund in ihrem Buch „Konzentrationslager in Oberösterreich 1938 bis 1945“: Hier wurden „die Häftlinge bei der Arbeit in den Steinbrüchen zu Tode schikaniert, erschlagen, erschossen, in der Krankenstation ‚abgespritzt‘, das heißt mit einer Injektion ermordet, im Winter bei ‚Badeaktionen‘ zu Tode gebracht oder sie starben an den Folgen von Unterernährung und Erschöpfung.“
Leidensgemeinschaft mit Zusammenhalt
Ricarda Scheiblberger hat sich 2019 in ihrer Diplomarbeit „Glaubenskraft am Ort der Vernichtung“ mit der Verfolgung und Ermordung der Zeugen Jehovas unter dem NS-Regime am Beispiel des Konzentrationslagers Mauthausen beschäftigt. Sie zitiert zahlreiche Quellen, die über das Leiden und Sterben der Menschen Zeugnis legen. Darunter auch Hans Maršálek, einen politischen Häftling im KZ Mauthausen, der als Lagerschreiber fungierte. Er schrieb damals: „Die Zeugen Jehovas waren im Konzentrationslager Mauthausen eine Leidensgemeinschaft mit festem Zusammenhalt. Sie waren bescheidene, disziplinierte, fleißige, duldsame, ihrer internationalen Bibelforschervereinigung und somit ihrem Glauben treu ergebene Menschen. Sie übten innerhalb der illegalen politischen Auseinandersetzung im Lager strenge Neutralität, es gab mit ihnen keine politische Zusammenarbeit, sie lehnten Tätigkeit gegen die SS ab und dazu kam noch, dass keiner von ihnen aus dem Lager zu flüchten beabsichtigte.“
140 Zeugen Jehovas starben in Mauthausen und Gusen
Etwa 450 Zeugen Jehovas aus ganz Europa waren nach Informationen des österreichischen Vereins „Lila Winkel – Vereinigung zur Rehabilitierung und Unterstützung von Opfern der NS-Zeit“ im Konzentrationslager Mauthausen und seinen Nebenlagern interniert. „Die ersten Jahre bis 1942 erfuhren sie ... eine besonders brutale und grausame Behandlung. Unmittelbar nach ihrer Einlieferung wurden sie der Strafkompanie zugeteilt und isoliert von den anderen Häftlingen untergebracht“, hat Ricarda Scheiblberger recherchiert. 140 Zeugen Jehovas starben im KZ Mauthausen. Auch Mathias Stich aus Mitterhart. Am 19. August 1940 wurde er von Mauthausen ins Außenlager Gusen verlegt, wo er am 24. Januar 1942 verhungerte.
Mitterharter wurde nur 34 Jahre alt
Mathias Stich wurde nur 34 Jahre alt. Mit dem „Raum der Namen“ und dem „Digitalen Gedenkbuch“ hat die Gedenkstätte Mauthausen ihm und all den anderen Toten des KZ Mauthausen und seiner Außenlager ein digitales Denkmal gesetzt. Nun hat Historiker Christoph Wilker seinen Namen auch in seine Heimatstadt zurückgebracht: Mathias Stich aus Mitterhart ist ein Opfer des Nationalsozialismus. Auch seiner wird heute gedacht.
Der „Raum der Namen“ in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen
Zu den 90.000 Menschen, die im KZ Mauthausen und seinen Außenlagern von August 1938 bis Mai 1945 ermordet wurden oder aufgrund von Hunger, Entbehrungen und den Folgen ihrer Haft starben, gehörte auch Mathias Stich aus Mitterhart. Das Gedenken an die Toten ist eine der wesentlichsten Verpflichtungen und Aufträge der KZ-Gedenkstätte Mauthausen und eine gesellschaftliche Verantwortung.
Im „Raum der Namen“ in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen und im virtuellen „Gedenkbuch für die Toten“ wird an den im Alter von 34 Jahren verhungerten Mitterharter erinnert. Ebenso an Franz Brustohin, der am 20. Dezember 1901 in Kolbermoor geboren wurde und am 24. Januar 1943 in Gusen ums Leben kam sowie an Josef Aschenbrenner, geboren am 28. Februar 1892 in Kolbermoor, gestorben am 20. März 1943 in Gusen.
Falls es noch Zeitzeugen, Hinterbliebene oder Familienangehörige der Kolbermoorer Opfer geben sollte, werden sie gebeten, sich unter der 0 80 61/37 00 11 oder per E-Mail an kathrin.gerlach@ovb.net bei den OVB-Heimatzeitungen zu melden. Wenn ihre Schicksale beleuchtet und ihre Geschichten erzählt werden, bleibt die Erinnerung wach.
Kolbermoor erinnert an italienische Opfer
Für Fortunato Zanobini und seine Frau Fernanda gibt es in Kolbermoor seit März 2020 einen Platz der Erinnerung, zwei Stolpersteine vor der Stadtbibliothek. Fortunato und Fernanda waren italienische Zwangsarbeiter. Andreas Salomon von der „Initiative Erinnerungskultur“ hat ihr Schicksal erforscht.
Fortunato und Fernanda Zanobini waren ein junges italienisches Ehepaar, das Ende 1943 zur Zwangsarbeit nach Kolbermoor verpflichtet wurde. Sie mussten im Auftrag von BMW in einem Außenwerk für die Rüstung arbeiten. Dieses Werk befand sich in den Räumen der Spinnerei und hatte den Tarnnamen „Baumwollspinnerei Werk II“. Fortunato hatte die Räume von Spinnereimaschinen freizuräumen, Fernanda war in der Küche beschäftigt. Beide wohnten in Baracken – er in Kolbermoor, sie in Rosenheim.
Weil Fortunato mehrfach nicht zur Arbeit erschien und nachts meist nicht in seiner Baracke nächtigte, wurde er ins KZ Dachau deportiert. Von Dachau aus kam Zanobini später in die KZ Buchenwald, Ohrdruff und Bergen-Belsen, wo er schließlich ums Leben kam. Seine Frau überlebte den Zweiten Weltkrieg. Ihr weiteres Schicksal ist unbekannt. Die Stolpersteine stehen symbolisch für die nahezu 1000 Zwangsarbeiter, die in der Zeit des Nationalsozialismus in Kolbermoor arbeiten mussten.


