Gregor Gysi im Interview
„Man muss mit der Letzten Generation reden!“ - Gregor Gysi sieht mit Sorge in die Zukunft
Gregor Gysi ist aus der deutschen Politik nicht wegzudenken. Nun hatte er sich eigentlich für eine Podiumsdiskussion in Rosenheim angemeldet. Aus dieser Veranstaltung wird allerdings nichts. Wir haben dennoch mit ihn über seinen politischen Werdegang, die Zukunft seiner Partei und auch über die Proteste der linken Szene im Rosenheim gesprochen.
Rosenheim/Berlin – Eigentlich hätte Gregor Gysi am 24.6. nach Rosenheim kommen sollen. Bei einem Bühnen Talk sollte er über sein politisches Leben und „wie man noch die Welt retten kann“ sprechen. Aus terminlichen Gründen musste der Auftritt nu abgesagt werden. Trotzdem stellt sich Gysi in einem OVB-Exklusivinterview den Fragen der Redaktion.
Herr Gysi, leider klappt es am 24. Juni nicht mit ihrem Bühnen Talk in Rosenheim. Gibt es für die Weltrettung derzeit überhaupt eine Lösung, über die man nachdenken könnte?
Gregor Gysi: Es gibt selbstverständlich verschiedene Lösungen. Das ist ein bisschen kompliziert. Wir müssen versuchen ganz genau zu analysieren, was der Kapitalismus kann, und das müssen wir unbedingt bewahren, und was er nicht kann, und das müssen wir unbedingt überwinden. Das ist, wie ich finde, immer ein interessanter Gesprächsstoff. Im Augenblick ist unsere Regierung allerdings ziemlich überfordert, sie hat viele Krisen zu bewältigen. Den Krieg Russlands gegen die Ukraine, aber auch die Inflation und die Energiekrise, wichtig der Klimawandel, wir hatten ja auch noch die Pandemie und das alles auf einmal. Und da ist unsere Regierung überfordert, aber das wäre eine CDU/CSU - Regierung auch.
Wäre das eine Regierung unter linker Führung auch?
Gysi: Als Scherz sage ich immer, die einzige Regierung, die funktionieren würde, wäre eine unter meiner Leitung. (lacht) Aber im Ernst, ich meine, dass der Bundestag viel offener werden muss. Wir haben viel zu wenig Gesprächskreise, wir machen uns viel zu wenig Gedanken überfraktionell, zum Beispiel, was man machen kann, um die gesetzliche Rente zu sichern. Oder wie wir mit dem Problem umgehen, dass ein Unternehmen mit hoher Wertschöpfung möglicherweise weniger Lohnnebenkosten zu zahlen hat als ein Unternehmen mit geringerer Wertschöpfung. Die Löhne kann man ja nicht verändern. Aber bei den Lohnnebenkosten könnte man sich eine andere Struktur einfallen lassen. Wie kann man für einen regelmäßigen Inflationsausgleich sorgen? Es gibt so viele wichtige gesellschaftliche und internationale Themen.
Was würde da alles dazugehören?
Gysi: Wir haben in Europa gelebt, wie wir gelebt haben, und viele Menschen in Afrika wussten gar nicht, wie wir genau leben. Aber nach der Erfindung des Internets und der Handys haben wir einen weltweiten Vergleich des Lebensstandards. Alle Regierungen machen sich Gedanken darüber, wie man Flüchtlinge verhindert, aber keine Gedanken darüber, wie man weltweit versuchen könnte, die soziale Frage zu lösen.
Wenn wir nach Rosenheim blicken, vor einem guten Monat besetzten Aktivisten aus der linken Szene ein leerstehendes Hotel um gegen Wohnraumverschwendung zu protestieren. Kann eine Hausbesetzung wirklich das Mittel der Wahl sein, um auf das Problem aufmerksam zu machen?
Gysi: Wir Ältere müssen uns immer fragen, warum greifen junge Leute zu außergewöhnlichen Mitteln, was stört sie? Ich kenne Leute von der Letzten Generation. Ich würde mich als gestoppter Autofahrer genauso ärgern wie alle anderen und jetzt spitzt sich die Sache auch noch zu, indem sie Autos beschädigen. Das hatte es bis dahin nicht gegeben. Auf der anderen Seite spitzt der Staat auch zu und versucht sie jetzt zu einer kriminellen Vereinigung zu erklären. Ich denke dann immer an ‘68. Ich hab das damals natürlich nur aus der DDR verfolgt. Die Studierenden hatten damals drei Kritikpunkte. Keine richtige Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit, verstaubte Strukturen an Universitäten und die ökologische Frage spielte kaum eine Rolle. Die wurden aber nur beschimpft, niemand hat mit denen gesprochen. Und dann bildete sich aus einem radikalen Kern die RAF. Das ist meine Sorge. Deswegen sage ich immer: redet mit ihnen! Man muss ihnen auch Ansätze für Lösungen zeigen.
Wenn wir kurz bei ihrer Partei, der Linken, bleiben. Im Wasserburger Stadtrat hat die Linke Liste einen Sitz, aber das ist eine Ausnahme in der Region. Wo sehen Sie das Profil der Partei in Bayern, und warum konnte Sie hier nie wirklich Fuß fassen?
Gysi: Das liegt auch daran, dass wir nie einen besonders starken Landesverband in Bayern hatten. Das will ich gar nicht bestreiten und der hatte es auch nicht leicht. Aber das liegt auch daran, dass, als wir begannen, uns zu organisieren als PDS im Jahr 1990, viele vernünftige Leute zu uns kamen, aber auch viele Ausgegrenzte. Die wissen immer, dass eine ausgegrenzte Partei nett sein muss zu ihnen. Aber das sind dann keine leichten Gruppen, sondern ausgesprochen schwierige. Außerdem waren wir natürlich ganz zentriert im Osten und nicht im Westen, erst nach der Vereinigung mit der WASG hat sich das verändert. Bayern ist besonders schwer. Aber ich mag Bayern und das ist für mich auch eine Herausforderung. Nur ist meine Partei gerade dabei, sich selbst zu zerstören und darum macht es derzeit wenig Sinn darüber nachzudenken. Ich hoffe aber, dass sich meine Partei wieder fängt und dann auch wieder mit Leidenschaft gekämpft und gestritten wird, auch in Bayern.
Die linke Partei in Österreich, die Kommunistische Partei (KPÖ) ist dort teilweise stark in den Stadträten vertreten, in Graz beispielsweise mit knapp 30 Prozent. Kann die Linke was von den Genossen aus Österreich lernen?
Gysi: Da ist wirklich etwas los, und das bei einer Partei, die im Niedergang war! Ob man dort etwas lernen könnte, weiß ich nicht, das müsste man sich genauer anschauen. Die Partei war ja lange nicht erfolgreich und wenn dann nur wegen einer Person. Aber dass sie jetzt ein so gutes Ergebnis in Graz und Salzburg hatten, das war früher einfach unvorstellbar. Das heißt, es muss in Teilen der Bevölkerung ein Umdenken gegeben haben. Vielleicht hängt das mit den internationalen Krisen zusammen. Nicht nur mit dem Klimawandel, sondern auch die soziale Frage wird immer schwieriger. Auch für ein Land wie Österreich. Die Sozialdemokratie dort hat sich auch neoliberalisieren lassen mit allen Folgen, das kennen wir ja auch aus Deutschland. Ich glaube, das könnte damit zusammenhängen.
Meinen Sie wirklich, dass die Möglichkeit einer Radikalisierung bei Teilen der Letzten Generation besteht?
Gysi: Zum einen stört sie das mit der Unbezahlbarkeit von Wohnungen und überhaupt der öffentlichen Daseinsvorsorge. Die Verletzung der Chancengleichheit bei Kindern und Jugendlichen bezüglich Bildung und Ausbildung, Kunst und Kultur und Sport, was auch mit den unterschiedlichen Schulstrukturen und der frühen Trennung zusammenhängt. Dann der Klimawandel. Es gibt ja Leute, die davon überzeugt sind, dass ihre Lebensgrundlagen zerstört werden.
Aber das Klima wandelt sich ja auch offensichtlich...
Gysi: Wissen Sie, ich bin 75. Ich halte den Klimawandel bis zum Ende meines Lebens noch aus, aber die jungen Leute eher nicht. Es geht um deren Zukunft. Und dann glaube ich hilft nur der Weg des Gesprächs. In ein paar Punkten haben sie natürlich recht, wir brauchen mehr sozialen Wohnungsbau. Ein Beispiel: Eine Familie muss ihre Wohnung verlassen, geht zum Bürgermeister und bittet um Hilfe. Der sagt aber, er könne leider nichts tun. Dann beschädigen wir die Demokratie! Wieso wähle ich den denn, wenn er mir in einer solchen Situation nicht helfen kann? Die Frage ist auch, wie gefährdet ist unsere Demokratie? Der Anteil der Bevölkerung, der die etablierten Parteien von der CSU bis zur Linken vollständig ablehnt, nimmt immer weiter zu. Das ist gefährlich.
Ihre Autobiografie trägt den Titel “Ein Leben ist zu wenig”. Wie viele bräuchten Sie denn?
Gysi: Naja, ich glaube natürlich nicht im Ernst, dass es mehrere Leben gibt. Sondern: Ich hatte bisher sechs Leben. Das erste war meine Kindheit und Jugend. Mein zweites Leben war meine Studentenzeit, das dritte war mein Anwaltsleben in der DDR. Das vierte war die Wendezeit in der DDR, wo jeden Tag etwas passierte, was am Vortag noch als ausgeschlossen galt, aber es passiere trotzdem. Dann wurde ich Bürger der Bundesrepublik Deutschland, da hatte ich zwei Leben, das fünfte und das sechste. Im fünften lehnte mich die Mehrheit der Bevölkerung strikt ab, ich selbst fand mich aber netter und habe deshalb um Akzeptanz für mich selber und für die Partei gerungen. Das ist mir irgendwann gelungen. Und heute akzeptiert mich die Mehrheit und das ist mein sechstes Leben. Das siebte Leben ist dann das höhere Alter, aber da ruf ich Sie an, wenn es so weit ist. Das ist dann mein letztes.