Dramatik in Feldkirchen-Westerham
Nur ein Kandidat, aber großes Zittern: Was die Bürgermeisterwahl 1978 so legendär gemacht hat
Ein Kandidat, der plötzlich keiner mehr war. Und einer, der keiner war, plötzlich einer wurde und dennoch um den Sieg zittern musste. Wieso die Bürgermeisterwahl 1978 in Feldkirchen-Westerham bis ins Jahr 2023, in dem die Gemeinde erneut einen Rathauschef wählt, Legendenstatus hat.
Feldkirchen-Westerham – Wenn Brigitte Köhler-Blaha, Chefsekretärin des Feldkirchen-Westerhamer Bürgermeisters, am Montag, 3. April, nach dem Wochenende an ihren Arbeitsplatz zurückkehrt, wird die 62-Jährige vermutlich als erste Amtshandlung ihren neuen Chef willkommen heißen. Den neuen Bürgermeister, der am 12. März 2023 von den Feldkirchen-Westerhamern gewählt wird und Hans Schaberl (paretifrei) als Rathauschef nachfolgen wird. Und der mit großer Wahrscheinlichkeit Johannes Zistl (Ortsliste Vagen) heißen wird, nachdem der 39-Jährige Mitte März als einziger Kandidat zur Wahl antreten wird.
Dramatische Wahl noch im Gedächtnis älterer Bürger verankert
Doch Köhler-Blaha, die bereits fünf Bürgermeister der Gemeinde als Chefsekretärin erlebt hat, weiß auch, dass selbst eine Kandidatur ohne Gegenkandidaten keine 100-prozentige Sicherheit bieten muss. Wie im Jahr 1978, als ebenfalls nur ein Kandidat auf den Stimmzetteln gestanden hatte, dieser dann aber fast bis zuletzt um seinen Wahlsieg zittern musste. Eine Wahl, die noch heute im Gedächtnis vieler älterer Gemeindebürger verankert ist – und an Dramatik wohl kaum zu überbieten sein wird, wie sich die Söhne der damaligen zwei Protagonisten im Gespräch mit den OVB-Heimatzeitungen erinnern.
Als Buben hatten Georg Röhrmoser, heute 67 Jahre alt und in Bruckmühl wohnhaft, und der ein Jahr jüngere Klaus Reitner aus Vagen zusammen Fußball gespielt, sich dann aber Jahrzehnte aus den Augen verloren. Dabei hatten die beiden nicht nur die Liebe zum Fußball, sondern auch politisch engagierte Väter gemein. So war Reitners Vater Max seit dem Jahr 1960 hauptamtlicher Bürgermeister der damals noch eigenständigen Gemeinde Vagen, Röhrmosers Vater Georg senior seit 1966 ehrenamtlicher Bürgermeister der damals eigenständigen Kommune Feldkirchen.
Nach der Gebietsreform 1972, die zu einem Zusammenschluss Feldkirchens und Vagens zur Gesamtgemeinde Feldkirchen-Westerham führte, war plötzlich nur noch ein Bürgermeister vonnöten. Die Wähler sprachen bei der Kommunalwahl am 11. Juni 1972 Reitner das Vertrauen aus, als dessen Stellvertreter wurde seitens des Gemeinderats wenig später dessen CSU-Parteifreund Röhrmoser gewählt. Für Röhrmoser laut dessen Sohn damals eine gute Lösung: „Mein Vater war zu diesem Zeitpunkt sowieso gesundheitlich angeschlagen, hatte zudem als Landwirt genug zu tun.“ Die Zusammenarbeit zwischen den Bürgermeistern und dem Gemeinderat habe „am Anfang auch relativ problemlos funktioniert“, wie sich Klaus Reitner erinnert.
Nominierung für Wahl am 5. März 1978 verläuft zunächst unspektakulär
Auch die Vorbereitungen für die Kommunalwahlen 1978 – zwischenzeitlich war auch noch die bis dato eigenständige Kommune Großhöhenrain per Verfügung des Landratsamtes Rosenheim der Gemeinde Feldkirchen-Westerham zugeschlagen worden – liefen zunächst unspektakulär ab. So nominierten die drei CSU-Ortsverbände Feldkirchen, Vagen und Großhöhenrain im Dezember 1977 Amtsinhaber Reitner zum gemeinsamen Kandidaten für die Bürgermeisterwahl am 5. März 1978.
Was dann in den Wochen um den Jahreswechsel passierte, bleibt bis heute nebulös. Fakt ist, dass die CSU im Januar die Kandidatur Reitners widerrief, stattdessen Georg Röhrmoser zum neuen Kandidaten kürte. „Was da genau war, wissen wir selbst nicht“, behauptet Georg Röhrmoser, Sohn des damaligen neuen Kandidaten. „Wenn wir uns beispielsweise beim Burschenverein getroffen haben, hieß es nur: Jetzt hakeln sich die Alten schon schon wieder wegen der Bürgermeisterwahl.“ Auch Reitner kennt die genauen Gründe für den Kandidatenwechsel nach eigenen Angaben nicht: „Es wird sicherlich irgendwas vorgefallen sein. Was genau, weiß ich aber nicht.“
Die Folgen des Personalkarussells sollten den Frieden in der Kommune in den Wochen bis zur Wahl jedoch auf eine harte Bewährungsprobe stellen. Denn obwohl Reitner nicht mehr offiziell für die Bürgermeisterwahl kandidierte, wurde im Hintergrund von Reitners Unterstützern an einer heimlichen Wahlkampagne gestrickt, die bis zur wilden Plakataufstellung im gesamten Gemeindegebiet reichte. „Es war eher ein Wahlkrampf als ein Wahlkampf“, erinnert sich Röhrmoser zurück. „Sachargumente waren damals leider nicht mehr groß gefragt.“
Fast 46 Prozent der Wähler schreiben Namen auf den Wahlzettel
Das Ende vom Lied: Röhrmoser, der als einziger Kandidat auf den Wahlzetteln stand, musste bis zuletzt um seinen Wahlsieg fürchten. Denn fast 46 Prozent der Bürger, die ihre Stimme abgegeben hatten, machten von ihrem Recht Gebrauch, bei nur einem Kandidaten einen Wunschbürgermeister auf dem Wahlzettel zu vermerken. 1576 Mal wurde der Name „Max Reitner“ notiert, 124 Stimmen gingen an andere Bürger aus der Kommune. Nachdem letztlich aber 2008 Wähler das Kreuz beim Namen von Georg Röhrmoser gemacht hatten, sicherte sich der ehemalige Feldkirchener Bürgermeister den Wahlsieg und damit das Amt des Rathauschefs. Ein Amt, das Röhrmoser, der 2017 gestorben ist, letztlich bis 1993 ausübte.
Doch weder Wahlsieger Röhrmoser, noch Schattenkandidat Max Reitner konnten die Abstimmung letztlich als Erfolg verbuchen, wie sich die Söhne der beiden Kommunalpolitiker heute erinnern. „Natürlich war mein Vater schon ein bisschen stolz, dass so viele Menschen seinen Namen auf den Wahlzettel geschrieben haben“, erinnert sich Klaus Reitner. Doch letztlich habe ihn der Verlust des Amtes „doch sehr getroffen und mitgenommen“. Schließlich sei sein Vater auch „direkt nach der Wahl aus der CSU ausgetreten“, erinnert sich der 66-Jährige. Halt gegeben habe ihm letztlich das Engagement für die Trachtenvereine, beispielsweise als langjähriger Vorsitzender des Gauverbands I. „Da ist mein Vater dann wieder so richtig aufgeblüht“, erinnert sich Reitner an dessen Einsatz für die Trachtensache, die letztlich bis zu seinem Tod 2013 währte.
Auch bei Wahlsieger Röhrmoser herrschte nach Angaben seines Sohnes nach der Wahl eher Katerstimmung. „Ein eindeutiger Wahlauftrag ist ja etwas anderes“, so Röhrmoser weiter. „Letztlich wurde dadurch ja wieder viel mehr gespalten, als vorher schon zusammengewachsen ist.“ Zumal sein Vater das Amt nie angestrebt, sondern aus „Pflichterfüllung“ gehandelt habe: „Da war er wirklich beinhart gegen sich selbst – trotz einer schweren Erkrankung, die er erst wenige Jahre zuvor erlitten hatte.“
Da ist viel Sprengstoff hineingetragen worden.
Doch auch wenn die genauen Hintergründe zum Kandidatenwechsel im Verborgenen bleiben – dass es überhaupt zu dieser Entwicklung gekommen war, dafür sei die Gebietsreform mitverantwortlich, ist Röhrmoser auch heute noch überzeugt. So habe es bereits 1972 Stimmen aus Vagen gegeben, die sich lieber mit der Gemeinde Bruckmühl zusammengeschlossen hätten. Die Eingemeindung Großhöhenrains habe dann dazu beigetragen, dass „alte Wunden wieder aufgerissen worden sind“.
Was sich dann auch im Wahlkampf bemerkbar gemacht habe: „Da ist viel Sprengstoff hineingetragen worden.“ Mit den Personen Röhrmoser und Reitner hätte das Ganze hingegen wenig zu tun gehabt. Sicherlich habe es während der Wahlkampfphase „Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Männern gegeben“, so Reitner, aber: „Die sind professionell damit umgegangen.“
Gibt es heute noch etwaige Animositäten zwischen den Ortsteilen?
Und wie sieht es heute aus? Hat die Gebietsreform immer noch Einfluss auf die Bürger der Gemeinde, die in der heutigen Form so seit rund 45 Jahren besteht? Sind etwaige Animositäten zwischen den Ortsteilen heute noch zu spüren? „Nein, das ist Geschichte“, ist Röhrmoser überzeugt. „Das hat halt einfach eine Generation gedauert, bis sich das eingespielt hat.“ Eine Einschätzung, die Reitner teilt. „Das ist eigentlich überhaupt kein Thema mehr“, sagt der 66-Jährige und verweist auf die Vereine, die seit Jahren konstruktiv zusammenarbeiten würden.
In Hinblick auf die kommende Wahl hätten sich die beiden Söhne ehemaliger Bürgermeister allerdings gewünscht, dass am Sonntag, 12. März 2023, nicht nur Johannes Zistl, sondern weitere Kandidaten zur Wahl antreten. Nicht, weil sie es dem Kandidaten nicht zutrauen oder weil sie erpicht auf einen harten Wahlkampf und etwaigen Unfrieden sind, sondern „weil der Bürger halt wirklich die Wahl haben sollte“, wie es Röhrmoser formuliert.
Doch auch wenn nun eben nur ein Kandidat zur Wahl stehen wird – dass er zur Wahl gehen wird, steht für Reitner außer Frage. „Das ist einfach meine Pflicht als Bürger“, sagt Reitner. So sieht es auch Röhrmoser, der als Bruckmühler zwar selbst nicht zur Wahl gehen darf, die Stimmabgabe „aber gespannt verfolgen wird“. Ebenso wie sicherlich Chefsekretärin Köhler-Blaha. Schließlich will die 62-Jährige bereits am Wahlabend wissen, wen sie am 3. April als ihren neuen Chef begrüßen darf.
