Zu Besuch in Wasserburg
„Kind wird kaum überleben“: Wie es Holocaust-Zeitzeugin Eva Umlauf trotzdem geschafft hat
Sie ist eine der jüngsten Zeitzeuginnen, die das KZ-Lager in Auschwitz überlebten: Dr. Eva Umlauf. In Wasserburg berichtet sie, wie sie den Holocaust erlebte, warum sie ausgerechnet nach Deutschland auswanderte und was sie zur aktuellen Politik sagt.
Wasserburg/München – „Vergessen Sie das Kind. Es wird kaum überleben.“ Diesen Satz sagte ein Arzt bei der Befreiung von Auschwitz zu Dr. Eva Umlaufs Mutter. Als Umlauf im Jahr 2010 ihre Krankenakte von damals sah, konnte die Kinderärztin und Psychotherapeutin aus München die Aussage des Arztes nachvollziehen. Tuberkulose, Lungenentzündung, Hungerödem und vieles mehr stand darin. Dennoch behielt der Mediziner unrecht. Umlauf erholte sich von ihren Erkrankungen und gilt heute als eine der jüngsten Holocaust-Überlebenden. 2016 veröffentlichte die Münchnerin ihre Geschichte unter dem Titel „Die Nummer auf deinem Unterarm ist blau wie deine Augen“. Vor kurzem war sie zu einer Lesung in Wasserburg zu Gast.
Umlauf kam am 19. Dezember 1942 im slowakischen Arbeitslager Nováky, in dem ihre jüdischen Eltern lebten, zur Welt. Während der NS-Zeit gab es in der Slowakischen Republik, der heutigen Slowakei, drei solcher Arbeitslager. Nováky sei mit etwa 1200 Insassen das größte von ihnen gewesen, berichtet Umlauf. „Die Slowakische Republik, war nicht besetzt – so wie Polen –, sondern war ein Vasallenstaat, also ein unsouveräner Staat“, erklärt die 81-Jährige. Der Antisemitismus dort sei weit verbreitet gewesen. Die slowakischen Soldaten hätten alle Art von Arbeiten, auch die schmutzigen, selbst ausgeführt. „Sie waren eifrige Helfer Hitlers“, erzählt Umlauf.
Herstellung für Kleidung und Kriegsmunition
Die Arbeitslager in der Slowakei dienten zur Herstellung für Kleidung oder Kriegsmunition. Frauen nähten Uniformen oder produzierten Schuhe und Kappen für deutsche Soldaten. Umlaufs Mutter sei wie viele an einer Nähmaschine gesessen, schildert sie. Auch Fotografen seien dort gewesen und hätten Propaganda-Bilder geschossen, die zeigen sollten, dass es den Juden in den Lagern gut gehe. „Die Gefangenen durften auch aus- und eingehen. Es gab einen Stacheldraht, der war aber ohne Strom, nicht wie der Zaun in Auschwitz“, beschreibt die 81-Jährige die Situation in Nováky.
Im Herbst 1944 dienten die Arbeistlager in der Slowakei nur mehr zur Deportation von Juden nach Auschwitz. Auch Umlauf, ihr Vater und ihre schwangere Mutter kamen auf einen Transport nach Polen. „Historiker nennen den Zug, in dem wir waren, den glücklichen Transport. Unsere Lok hatte einen Defekt, weswegen sich unsere Ankunft auf den 3. November verspätete. Davor gingen die Züge direkt ins Gas. Darunter waren junge und alte Menschen – auch Kinder“, erzählt Umlauf. Die Rote Armee sei auf dem Vormarsch gewesen, weswegen die Nazis die Massenvernichtungen vertuschen wollten und die Vergasungen in Auschwitz zum 31. Oktober 1944 einstellten, sagt sie.
Ankunft im Vernichtungslager
Warten in eisiger Kälte, Abgabe aller Habseligkeiten, nackt ausziehen, Kontrolle aller Körperöffnungen – Das immer gleiche Prozedere in Auschwitz. Den Vater hätten Umlauf und ihre Mutter das letzte Mal bei der Ankunft im Vernichtungslager gesehen. „Meine Mutter und ich kamen in das Abteil für Frauen. Mein Vater zu den Männern. Er wurde später auf einen Todesmarsch ins KZ Melk geschickt, wo er am 20. März 1945 ums Leben kam“, berichtet die 81-Jährige.
„Die Nummer auf deinem Unterarm ist blau wie deine Augen“ prangt einem vom Buchcover entgegen. A 26959 wurde dem damals zwei Jahre alten Mädchen tätowiert. „Ein Mitgefangener hat meinen Arm festgehalten, ich habe geschrien, bin blau angelaufen und schließlich ohnmächtig geworden“, beschreibt Umlauf die Reaktionen ihres Körpers, so wie es ihr die Mutter erzählt hat. „Als Kinderärztin heute weiß ich, dass das ein respiratorischer Affektkrampf war, wie er bei Kleinkindern bei Wut oder starken Schmerzen vorkommen kann. Er sieht gefährlich aus, normalerweise kommen die Kleinen jedoch schnell wieder zu sich“, erklärt Umlauf.
„Die Nummer gehört zu mir wie jedes Muttermal“
Die Nummern seien nur in Auschwitz tätowiert worden. In den anderen Konzentrationslagern sei die Zahlenfolge meist in der Jacke eingenäht worden, erklärt Umlauf. Manche Überlebende aus Auschwitz hätten sich ihre Nummer entfernen lassen, andere hätten sie behalten. „Das muss jede Person selbst für sich entscheiden. Die Nummer gehört zu mir wie jedes Muttermal oder jede Falte. Ich kenne mich nicht anders. Meine Mutter wurde direkt vor mir tätowiert. A 26958. Meine Neun folgte auf ihre Acht“, sagt Umlauf. Die Nummer sei ihr persönliches Mahnmal. Die Erinnerung daran, ihre Geschichte zu erzählen und das Geschehene nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, betont die Münchnerin.
Umlauf bezeichnet sich selbst als Zeit-en-zeugin. „Wir sind von der braunen Diktatur in die rote Diktatur“, erklärt sie die politische Lage zur NS-Zeit und in der Sowjetunion. Nach der Befreiung des KZ Auschwitz am 27. Januar 1945 seien sie und ihre schwangere Mutter noch bis zum Sommer dort geblieben. Der Gesundheitszustand der beiden war so schlecht, dass sie nicht transportfähig waren. Im April 1945 kam dort auch Umlaufs Schwester Nora zur Welt. Im Juli ging die kleine Familie in die damalige Tschechoslowakei zurück. Großeltern oder Onkel und Tanten haben den Holocaust nicht überlebt.
„Ein Wunder, dass wir leben“
An ihre Zeit in Nováky oder Auschwitz-Birkenau kann sich Umlauf nicht erinnern. Die ersten Erinnerungen hätten Kinder ab drei oder vier Jahren, erläutert die Psychotherapeutin. Die am weitesten in ihrem Gedächtnis zurückgehenden Situationen seien folgende: „Nach der Zeit im KZ lebten wir in der Kleinstadt Trenčín im slowakischen Teil der Tschechoslowakei. Die Leute auf der Straße sagten immer, es sei ein Wunder, dass wir leben. Meine Schwester und ich haben dann eine Schokolade bekommen. Ich konnte die Leute nicht verstehen. Für mich war klar, dass sich lebe, was sollte ich sonst tun“, erinnert sich Umlauf. Über die Süßigkeiten habe sie sich jedoch sehr gefreut.
Umlauf ging zur Schule, studierte Medizin in Bratislava und folgte 1967 ihrem polnischen Ehemann nach München. In das Land der Täter. „Es war keine einfache Entscheidung, nach Deutschland zu gehen“, erinnert sich die 81-Jährige. „Paradoxerweise konnte ich in München meinen jüdischen Glauben am freiesten ausleben. In der roten Diktatur waren jegliche Religionen verboten“, erklärt sie. In München, ihrem Wohnort, erlebte Umlauf keine Einschränkungen aufgrund ihrer Glaubensrichtung. „Jedoch haben wir bei allen jüdischen Veranstaltungen Polizeischutz. Anders geht es nicht“, betont sie. „Ich habe viel Verständnis für das Schutzgebot, auch wenn ich es hasse.“
Tätowierung sorgt weiterhin für Aufmerksamkeit
Ihre Tätowierung auf dem Arm ziehe jedoch auch heute immer noch Aufmerksamkeit auf sich, wenn auch nicht mehr so oft. Im Krankenhaus sei sie zweimal, auf das mittlerweile etwas verblasste und verzogene Tattoo mit den Worten „Was haben Sie denn da?“ oder „Solche Tätowierungen haben doch nur junge Leute“ angesprochen worden. 2013, an einem heißen Sommerabend in der U-Bahn, habe jedoch ein junger Mann erkannt, um welche Art es sich bei dem Tattoo handle. „Er ist aufgestanden und hat sich bei mir dafür entschuldigt, was seine Vorfahren mir angetan hätten. Ich war total perplex. Ehe ich reagieren konnte, war er schon bei der Türe hinaus. Ihn trifft keine Verantwortung. Er braucht sich nicht zu entschuldigen“, betont Umlauf.
Die aktuelle politische Lage beobachtet sie mit Sorge. Auch wenn sie keine direkten Anfeindungen bekäme, falle ihr eine angespannte Atmosphäre auf. „Die steigenden rechtsradikalen Tendenzen in der europäischen Politiklandschaft machen mir Angst“, sagt Umlauf. Antisemitismus sei schon immer da gewesen, nun werde er salonfähiger. Auch der Krieg in Israel mache ihr zu schaffen. „Ich mache mir Sorgen um Freunde und Familie, die ich dort habe“, betont Umlauf. Sie hoffe, es komme bald zu einer Lösung für alle Beteiligten.
Ihr Buch erschien 2016
Umlauf sagt von sich selbst, dass sie erst spät damit angefangen habe, ihre Familiengeschichte für ihr Buch zu recherchieren. „Ich hatte immer den Plan, die Einzelgeschichte meiner Familie zu veröffentlichen.“ Doch ihr habe die Zeit gefehlt angesichts ihrer Berufstätigkeit und der Kindererziehung. Als sie vor zehn Jahren einen Herzinfarkt erlitt, versprach sie sich selbst: „Wenn ich gesund aus dem Krankenhaus wieder herauskomme, dann fange ich an.“ 2016 erschien dann ihr Buch „Die Nummer auf deinem Unterarm ist blau wie deine Augen“. Die Zeit des Schreibens und Nachforschens beschreibt Umlauf als „emotional sehr belastend.“ Die ständige Konfrontation mit verstorbenen Familienmitgliedern habe sie zwischenzeitlich auch krank gemacht. Zudem habe sie fast alle Informationen über die Gegebenheiten in den Arbeits- und Konzentrationslagern erst bei dieser Recherche erfahren. „Meine Mutter hat nicht viel über die Zeit damals gesprochen“, erklärt die Autorin. „Heute bin ich froh, dass ich es veröffentlicht habe.“
Am 29. Februar war Umlauf für eine Lesung ihres Buches in Wasserburg. Sie fühle sich fit, lebe gerne und sehe eine Aufgabe darin, ihre Geschichte weiterhin zu erzählen und damit zu zeigen: „Den Nazis ist es nicht gelungen, die Familie ganz auszulöschen.“ Mittlerweile gibt es ihr Buch neben einer deutschen und slowakischen Fassung auch auf Englisch. Ihr Appell an alle Menschen lautet: Die politische Entwicklung zu sehen und sich zu überlegen, wie man im Wahlverhalten die Demokratie schützen kann. Auch in der Schule gehöre dem Thema weiterhin viel Aufmerksamkeit geschenkt, betont die 81-Jährige. „Es gehört zur dunkelsten Seite der deutschen Geschichte. Die Jugend soll wissen, was passiert ist. Interessant wird, was sie daraus machen werden.“