Gespräch mit Leiter Horst Henke
So hilft Krisenintervention: Vom Zugunglück Bad Aibling bis zur Corona-Pandemie
Rosenheim – Sie kommen zum Einsatz, wenn Leid und Trauer nicht in Worte zu fassen sind: Die Mitarbeiter des Kriseninterventionsteams (KIT). Ein Gespräch mit dem Leiter Horst Henke über Weihnachten, erschütternde Einsätze und was die Pandemie mit den Menschen macht.
Haben Sie Angst vor dem Tod?
Horst Henke : „Der Tod gehört für mich zum Leben dazu. Bei meiner Arbeit als Fachdienstleiter beim BRK-Kriseninerventionsteam habe ich fast täglich mit dem Tod zu tun. Aber es sind nicht meine Sorgen und Ängste, sondern die der Betroffenen. Und meine Aufgabe ist, diese Menschen wieder handlungsfähig zu machen. Ich unterstütze sie und helfe ihnen dabei, mit ihren Problemen zurechtzukommen.“
Aber belastet das nicht unheimlich?
Henke: „ Klar greift es einen auch ab und zu an. Man hat ja auch selbst Emotionen. Und natürlich gibt es auch Sachen, die unter die Haut gehen. Gerade wenn es beispielsweise einen schweren Arbeitsunfall gegeben hat. Das macht was mit einem. Aber man muss lernen, sich abzugrenzen. Und in den meisten Fällen schaffe ich das auch.“
Da hilft sicherlich auch ihre 25-jährige Erfahrung im Rettungsdienst.
Henke: „Natürlich. Aber auch nach so vielen Jahren stumpft man nicht ab. Man vergisst keinen Einsatz.“
Denken Sie nie ans Aufhören?
Henke: „Für den Dienst, den ich leiste, bekomme ich unheimlich viel Dankbarkeit zurück. Ich war beispielsweise erst kürzlich bei einer älteren Dame, die ihren Mann verloren hat. Kurz bevor ich mich verabschiedet habe, hat sie mich in den Arm genommen und sich bedankt. Da schmilzt einem einfach das Herz. Diese Erfolgserlebnisse, die man hat, und diese Dankbarkeit, die man zurückkriegt, sind phänomenal. Das gibt so viel, das kann man sich gar nicht vorstellen.“
Sie arbeiten eigentlich in der JVA Bernau. Wie lassen sich die Krisenintervention und Ihr Beruf miteinander vereinbaren?
Henke: „Für die Krisenintervention habe ich meistens am Wochenende oder an den Feiertagen Dienst. Ich war beispielsweise an den vergangenen vier Heiligabenden im Einsatz. Dieses Jahr habe ich frei. Wobei ich natürlich im Hintergrund agiere. Sollte es also einen größeren Einsatz geben, wäre ich auch dabei. In solchen Fällen würde ich dann auch von der Arbeit wegkommen.“
Was verstehen Sie unter größeren Einsätzen?
Henke: „Das Zugunglück in Bad Aibling war beispielsweise ein solcher Fall. Oder als die Rettungswache in Bad Wiessee explodiert ist. Ich war auch bei dem Mord in Prien dabei und bei den drei tödlichen Abbiegeunfällen in Rosenheim.“
Bleiben wir bei den Abbiegeunfällen. Wie erfahren Sie von dem Ereignis?
Henke: „Mich alarmiert entweder jemand vom Rettungsdienst, die Polizei oder eine andere Hilfsorganisation.“
Und dann?
Henke: „Wir schauen dann, wie weit die Betroffenen sind. Viele sind handlungsunfähig. Die wissen gar nicht mehr, was passiert ist oder wo sie sind. Einige schweigen, andere weinen oder schreien. Es kommt auch vor, dass Betroffene in Ohnmacht fallen. Wir sind dann für sie da, hören zu oder schweigen mit ihnen. Wir versuchen, den Leuten zu erklären, was passiert ist und wie sie damit umgehen können. Und wir kümmern uns um weitere Unterstützung, sei es durch Freunde oder Familie. Wir betreuen innerhalb der ersten 48 Stunden nach einem besonders belasteten Ereignis.“
Hin und wieder kommt es auch vor, dass sich Passanten bei Ihnen melden, die den Unfall mitbekommen haben.
Henke: „Das stimmt. Das war beispielsweise der Fall bei dem tödlichen Abbiegeunfall am Bahnhof. Am Abend beziehungsweise am Tag danach haben wir Alarmierungen bekommen, weil die Menschen gemerkt haben, dass sie etwas gesehen haben, mit dem sie nicht zurechtkommen.“
Kommt es oft vor, dass Menschen nach Hilfe fragen?
Henke: „Nein. Wir leben in einer Gesellschaft, die so entwickelt ist, dass sie alleine mit ihren Problemen zurechtkommen will. Deswegen werden wir auch oft übersehen. Die Betroffenen bluten nicht. Sie sitzen vielleicht irgendwo unbeteiligt in der Ecke und werden gar nicht richtig wahrgenommen. Da kann es leicht passieren, dass unsere Arbeit gar nicht angefordert wird. Aber: Wenn jemand Hilfe ruft, bekommt er diese Hilfe.“
Wie hat die Pandemie Ihre Arbeit verändert?
Henke: „Wir haben 30 Prozent mehr Einsätze in Stadt und Landkreis gehabt. Während wir normalerweise um die 200 Einsätze haben, sind wir jetzt schon bei 250. Davon macht ungefähr ein Drittel das Rote Kreuz und zwei Drittel die Notfallseelsorge.“
Welche Einsätze kommen am häufigsten vor?
Henke: „Es gibt Unfälle, Sterbefälle und Reanimationen. Und im Frühjahr gab es viele Suizide. Das war übrigens auch nach dem ersten Lockdown so. Generell habe ich Gefühl, dass die Leute nicht mehr so stark und stabil sind, wie sie es vor der Pandemie noch waren.“
Sie waren dieses Jahr auch als Einsatzleiter im Ahrtal.
Henke: „Ja, eine Woche nach der Flutkatastrophe. Da waren Kiesfelder, wo vorher Häuser gestanden haben. Auf diesen Flächen hat man kein Grundstück mehr erkannt. Da lagen Grabsteine rum, zum Teil von drei Orten weiter, die weggeschwemmt worden sind. Das waren schon beeindruckende Bilder – dieser Dreck und vor allem der Gestank.“
War das für Sie einer der schlimmsten Einsätze in diesem Jahr?
Henke: „Da stellt sich die Frage, was ist schlimm. Schlimm ist auch eine Kinderreanimation über zwei Stunden. Man kann die Dinge nicht miteinander vergleichen.“
Was raten Sie Menschen, die gerade ein besonders belastendes Ereignis hinter sich haben?
Henke: „Wichtig ist zu wissen, dass Reaktionen auf solche Ereignisse ganz normal sind, egal wie stark man ist oder wie sehr man meint, im Leben zu stehen. Darüber zu reden, hilft beim Verarbeiten. Und dann ist es auch wichtig, an sich zu denken und sich selbst etwas Gutes zu tun. Sei es Sport, gute Musik oder ein Abend mit Freunden. Man darf sich selbst nicht vergessen.“
Ihr Weihnachtswunsch?
Henke: „Wir haben in den beiden Schnelleinsatzgruppen schon vor Jahren festgestellt, dass wir ohne ein Einsatzfahrzeug nicht klarkommen. Wir fahren im Moment mit unseren Privatfahrzeugen zu den Einsätzen. Das heißt, wenn die Autobahn zu ist, brauche ich zum Teil zwei Stunden zu den Betroffenen, die auf mich warten. Die sind zum Teil verzweifelt und steigern sich immer weiter rein. Und ich stecke auf der Autobahn fest. Auch beim Hochwasser 2013 mussten wir feststellen, dass wir ohne ein Einsatzfahrzeug stundenlang im Stau stehen. Ähnlich ist es im Katastrophengebiet. Im Ahrtal haben wir das ganz extrem bemerkt. Ohne Blaulicht und Martinshorn komme ich nirgendwo hin. Deswegen haben wir beschlossen, uns ein Einsatzfahrzeug anzuschaffen.“
Das geht aber nur über Spenden.
Henke: „Richtig. Weil wir keine Einnahmen haben. Als Krisenintervention dürfen wir keine Rechnungen stellen. Und unser Problem ist, dass wir mit „unseren Toten“ keine Werbung machen können. Wir arbeiten im Hintergrund, auch um die Betroffenen zu schützen.“
Die Maßnahmen der Psychosozialen Notfallversorgung (PSNV) zielen auf die Bewältigung von kritischen Lebensereignissen und der damit einhergehenden Belastungen für Betroffene und für Einsatzkräfte. Der Fachdienst PSNV wurde 2002 gegründet und in die Strukturen des BRK Kreisverbandes Rosenheim eingeführt. Das Team der PSNV ist rund um die Uhr alarmierbar und einsatzbereit. Horst Henke war vor seiner Zeit als Kriseninterventionsteams-Leiter 25 Jahre im Rettungsdienst tätig. Seit 2013 leitet er im Stadt und Landkreis Rosenheim beim BRK die Psychosoziale Notfallversorgung als Fachdienstleiter. Mehr Infos gibt es unter Telefon 08031/30190, per E-Mail an info@kvrosenheim.brk.de oder unter www.brk-rosenheim.de/psnv. Dort gibt es auch weitere Infos zum Spendenprojekt.

