Ehrenamtliche als Busfahrer
Kleiner Exot verwirrt den großen MVV: Der Bürgerbus Chiemsee im nördlichen Chiemgau
„Die beiden wollen mit.“ Michael Beye kennt seine Pappenheimer. Er ist Busfahrer. Naja, er war Lehrer an Brennpunktschulen in Berlin. Jetzt lebt er in Prien, ist Pensionär und Busfahrer. Er fährt den Bürgerbus Chiemsee. Ehrenamtlich. Der Bürgerbus ist eine Rarität in Bayern. Eine Rarität, die den großen MVV verwirrt.
Prien/Amerang – Zwei Damen reiferen Mittelalters sind am Freitagmorgen um kurz vor halb neun zielstrebig unterwegs Richtung Amerang Bahnhof. Nicht zum Zug, der fährt dort schon lange nicht mehr. Sie wollen zum Bürgerbus Chiemsee. Der fährt. Seit fast 22 Jahren bringt er Passagiere von Amerang nach Prien und zurück. Abfahrt ist in der Bahnhofstraße, nur wenige Meter entfernt vom Betreuten Wohnen.
Brigitte Müller, eine der beiden zielstrebigen Damen, ist Stammgast. Busfahrer Michael Beye, einer von knapp 20 ehrenamtlichen Chauffeuren, begrüßt sie freundlich. Brigitte Müller muss nach Bad Endorf zur Behandlung und findet den Bürgerbus einfach praktisch. „Und günstig ist es auch noch“, schmunzelt sie. Ganze 1,50 Euro kostet die Fahrt. Ein Auto hat Brigitte Müller nicht, der Bürgerbus ist ihre einzige Möglichkeit. Vor allem für die Heimfahrt, denn der zwischen Prien und Wasserburg verkehrende Linienbus fährt Amerang nur zweimal am Tag an. Immerhin. Es gibt etliche Weiler an der Bürgerbusstrecke, die haben gar keinen ÖPNV-Anschluss – außer den Bürgerbus.
Anna Deml-Stigloher steigt zu. Sie will von Amerang nach Obing. Das sind nur ein paar Kilometer. „Das geht aber nur mit dem Bürgerbus. Sonst müsste ich von Amerang nach Wasserburg und von dort nach Obing fahren“, erklärt sie. 25 bis 30 Kilometer mehr, vom Zeitaufwand gar nicht zu reden.
Der Bürgerbus ist ausbrechender Verkehr
„Wir sind ausbrechender Verkehr“, sagt Norbert Gradmann und freut sich über das verdutzte Gesicht der Reporterin. Gradmann koordiniert die Fahrer, hält den Kontakt mit den Behörden und denkt gerade über die Gründung eines Bürgerbus-Vereins nach. Er erklärt: Busverkehr ist in der Regel Sache des Landkreises. Der Bürgerbus verbindet montags bis freitags Prien, Rimsting, Breitbrunn, Gstadt, Bad Endorf, Eggstätt, Seeon-Seebruck, Pittenhart, Obing und Amerang. Zehn Gemeinden in zwei Landkreisen. Fahrten über die Landkreisgrenzen heißen unter Fachleuten eben „ausbrechender Verkehr“.
Die Landkreise Rosenheim und Traunstein haben sich über die mehr als zwei Jahrzehnte an den ausbrechenden Verkehr gewöhnt, der MVV tut sich noch etwas schwer damit, berichtet Gradmann amüsiert. „Die Herrschaften wissen nicht so recht, was sie mit uns anfangen sollen.“ Kein Wunder: In Südbayern ist der Bürgerbus Chiemsee ein Exot. In Oberfranken gibt es noch einen Bürgerbus. Zum Vergleich: In Hessen sind 110 Bürgerbusse unterwegs, in Nordrhein-Westfalen 90, in Baden-Württemberg 70 und im Norden und der Mitte Niedersachsens 60.
Der Bürgerbus Chiemsee ist ein nach § 42 Personenbeförderungsgesetz genehmigter Linienverkehr, sogar mit eigener Nummer – 9480. Aber: „Der Bürgerbus Chiemsee ist, weil ehrenamtlich betrieben, die einzige Linie in der Region außerhalb des MVV. MVV-Tickets von Fahrgästen werden aber anerkannt“, erklärt Michael Fischer, Sprecher des Landratsamtes. Bis Februar 2028 ist der Bürgerbus Chiemsee noch so genehmigt, wie er jetzt unterwegs ist. Bis diese Genehmigung ausläuft, so Fischer, wollen der Landkreis Rosenheim und der MVV ein geeignetes Tarif- und Vertriebskonzept erarbeiten, um den Bürgerbus Chiemsee zukünftig behutsam in den MVV-Tarif beziehungsweise in eine andere Genehmigungsform zu überführen.
Dann kommen hoffentlich auch die Praktiker, sprich die engagierten Fahrerinnen und Fahrer, zu Wort. Das war, so bedauert Gradmann, in den letzten Jahren nicht immer der Fall. Dabei hätten die einige Ideen. „Wir könnten andere Streckenführungen anbieten, andere Haltestellen anfahren und so Überlandbuslinien miteinander verbinden“, erklärt Gradmann. So wie das zum Beispiel in vielen Teilen Niedersachsens der Fall ist. Wo die Bürgerbusse, auch ehrenamtlich gesteuert, Teil der Verkehrsverbünde sind. Was sich Gradmann mal selber angesehen hat, nachdem ein Bürgerbusfahrer aus dem Bremer Umland, im Chiemgau im Urlaub, zu ihm in den Bus gestiegen war. Natürlich haben die beiden gefachsimpelt...
Michael Beye, Fahrer am Freitagmorgen, hat schon in Obing, beim John, den achtsitzigen Bus fast voll. Zwei junge Männer aus Afrika nehmen deswegen neben ihm Platz. Es wird kuschelig ganz vorne im Fahrzeug. Beye spricht englisch, unterhält sich immer wieder mit den beiden, beantwortet ebenso viele Fragen, wie er selber stellt. „Wir haben eigentlich immer nette Leute an Bord, die auch mal Unbequemlichkeiten in Kauf nehmen“, sagt Beye.
Die Legende besagt, dass es auch schon mal einen Passagier zu viel gegeben haben soll. Der dann auf dem Fahrzeugboden saß. In der Tat: Manchmal müssen die Fahrerinnen und Fahrer Menschen stehen lassen. Weil der Bürgerbus Chiemsee voll ist. „Am Endorfer Bahnhof müssen wir nachmittags manchmal sortieren, wer wohin will“, sagt Gradmann. „Wer nach Obing oder Pittenhart will, darf mit; wer nach Eggstätt will, muss auf den RVO-Bus 20 Minuten später warten.“
Das ist an diesem Freitag nicht nötig. Der Bürgerbus kommt zwar knallevoll in Prien am Bahnhof an, neben der Reporterin steigt aber nur ein weiterer Fahrgast ein. Und in Rimsting wieder aus. In Bad Endorf wartet eine alte Frau mit Trolley, „die will mitfahren“, sagt Gradmann, der an diesem Tag die Nachmittagsschicht fährt. „Die regelmäßigen Fahrgäste kennen wir“, sagt er. Gradmann macht sich gerade bereit zum Aussteigen, will den Einkaufswagen in den Bus heben. Muss er nicht, zwei junge Männer, die auch mitfahren wollen, kommen ihm zuvor. Der eine schnappt sich den Einkaufswagen, der andere greift der Frau unter den Arm und schon ist alles gut. Ein Niederflurbus wäre bei älteren Herrschaften oder Müttern mit Kinderwagen schon praktisch, sind sich die beiden Freitagsfahrer Beye und Gradmann einig.
Weitere Bürgerbus-Fahrer sind willkommen
Knapp 20 ehrenamtliche Fahrerinnen und Fahrer hat der Bürgerbus Chiemsee derzeit. Der Bus fährt montags bis freitags, ein Fahrer übernimmt die Frühschicht von 8 bis 13 Uhr, ein anderer die Spätschicht von 13 bis 17 Uhr. Norbert Gradmann macht den Einsatzplan, berücksichtigt Wünsche und anderweitige Termine der Frauen und Männer. Zwei Mal im Monat ist jeder Ehrenamtliche im Schnitt im Einsatz, manche wollen öfter, andere haben nur einmal im Monat Zeit und getauscht werden kann untereinander auch. Wer gerne Auto fährt und gerne mit Menschen umgeht, Lust hat, ehrenamtlich den Bürgerbus zu fahren, kann sich bei Gradmann unter 0160/8410356 melden oder eine E-Mail an norbert.gradmann@t-online.de senden. „Wir freuen uns über jeden, der unser Team verstärkt.“
Den gibt es aber erstmal nicht. Der Landkreis Rosenheim hat zwar einen neuen Bürgerbus in Auftrag gegeben, aber es wird wieder ein „normaler“. Man habe sehr wohl abgewogen, heißt es aus dem Landratsamt. Aber: „Die Menschen mit Behinderung, die eine Niederflurausstattung benötigen, benutzen in der Regel andere geeignete Fahrdienste beziehungsweise entsprechende Fahrzeuge.“ Hinzu komme, dass die Haltestellen des Bürgerbus Chiemsee überwiegend nicht für den Niederflurbereich ausgelegt sind. Eine in die Vergangenheit vorgenommene Betrachtung habe zudem ergeben, dass das Fahrgastaufkommen im Bereich der Niederflurtechnik zu gering war.
Otto Lederer ist Fan
Generell aber sind die ehrenamtlichen Fahrer mit dem Landkreis ganz zufrieden. Landrat Otto Lederer hat ihnen versichert, „am Bürgerbus wird nicht gespart“, weder vom Landkreis Rosenheim noch vom Landkreis Traunstein. Denn die Fahrer sind zwar Ehrenamtliche, die nur Kilometergeld bekommen, wenn von zu Hause zum Wertstoffhof in Amerang fahren, wo der Bürgerbus abgestellt ist. Aber der Bus muss geleast, versichert, betankt, gewartet werden. Und die Personenbeförderungsscheine der Fahrerinnen und Fahrer werden auch bezahlt. Der finanzielle Aufwand des Landkreises Rosenheim für den Bürgerbus Chiemsee (BBC) liegt laut Fischer jährlich im mittleren fünfstelligen Bereich. Diesen Kosten stehen die staatliche Förderung von etwa elf Prozent, die Fahrgeldeinnahmen von rund 17 Prozent sowie die Beteiligung von insgesamt zehn Gemeinden von etwa 60 Prozent gegenüber. „Und einen gemeinsamen Ausflug spendiert der Landkreis uns Ehrenamtlichen auch“, erzählt Gradmann schmunzelnd. Schließlich sind die Fahrer, weiß Lederer „das Herzstück des Projektes“.
