In Bad Aibling änderte sich alles
„Dachte, ich sterbe“: Lina (20) brach sich beim Sturz aus dem zweiten Stock das Genick
Bei einem Sturz aus dem zweiten Stock brach sich Lina Hoffmann (20) das Genick. Seitdem ist sie hoch querschnittsgelähmt. Stück für Stück kämpfte sie sich „ins Leben zurück“. Was Bad Aibling dabei für eine Rolle spielte, wie es zu dem Unfall kam – und warum sie jetzt so offen über ihr Schicksal sprechen kann.
Bad Aibling/München – Ein lauter Schrei kam aus Lina Hoffmanns Kehle. Kurz darauf fiel sie kopfüber aus dem Fenster ihrer Wohnung zwei Stockwerke hinunter. An die Minuten nach dem Aufprall kann sich die junge Frau noch gut erinnern: „Ich dachte die ganze Zeit, dass ich mich übergeben muss. Überall hat es gekribbelt. Ich dachte, ich sterbe.“ Dann hörte sie die Sirenen des Krankenwagens. Kurz darauf sei alles dunkel geworden.
Hoffmann kam auf die Intensivstation der Münchner Klinik rechts der Isar. Bei einer zehnstündigen Operation wurde ihr Hals von vier Seiten geöffnet und ihre Wirbelsäule mithilfe von Metallstangen und Schrauben stabilisiert. Danach lag Hoffmann fast zwei Wochen im Koma. Einige Tage davon musste sie künstlich beatmet werden.
Als sie aufwachte, konnte sie sich im ersten Augenblick an nichts mehr erinnern. Sie habe gedacht, sie hätte sich nur einen Arm oder ein Bein gebrochen. In ein paar Tagen würde sie bestimmt wieder entlassen werden. Doch dann kamen die Erinnerungen Stück für Stück zurück. Und mit ihnen der große Schock. „Die Ärzte sagten mir, dass beim Sturz mein Genick gebrochen und ich nun querschnittsgelähmt sei“, sagt Hoffmann.
„Größter Wunsch“ bleibt unerfüllt
Der Unfall passierte im Mai vergangenen Jahres. Damals war Hoffmann 19 Jahre alt. Nach ihrem Schulabschluss war die gebürtige Münchnerin aus dem Elternhaus ausgezogen. Kellnerte in Restaurants. Schließlich entschied sie sich, Friseurin zu werden. Es war ihr „größter Wunsch“. Sie bewarb sich und wurde zum Probearbeiten eingeladen. Kurz danach bekam sie den Arbeitsvertrag. „Zwei Tage bevor ich dann mit meiner Ausbildung starten sollte, passierte der Unfall“, sagt Hoffmann. Der Beruf kommt für die heute 20-Jährige nicht mehr infrage. Mit einem Mal ist alles anders, die einstigen großen Pläne für ihr Leben sind Vergangenheit.
Nach dem Unfall konnte Lina Hoffmann nur ihre Arme bewegen. Ihre Handgelenke, ihre Finger und alles unterhalb des Brustbeins waren „völlig taub“. Auch selbstständig Atmen war nicht möglich. Sie bekam ein Tracheostoma, eine künstliche Öffnung an der Luftröhre. Daran wird eine Kanüle angelegt, die das Atmen unterstützt. Zudem wird dadurch überflüssiger Speichel abgesaugt, den die Lungen nicht selbst abhusten können.
In der Münchner Klinik konnte sie noch nicht begreifen, was die Querschnittslähmung für sie bedeutet. Sie habe zu dem Zeitpunkt noch unter starken Schmerzmitteln gestanden und „oft halluziniert“. Wie sehr sich ihr Leben ändern würde und wie schwer es wird, sich zurück ins Leben zu kämpfen, das begriff Hoffmann erst in Bad Aibling.
Von der Intensivstation nach Bad Aibling
Von der Intensivstation ging es für sie auf die Geriatrie in Bad Aibling. Auf eigenen Wunsch wurde sie nach nur einer Woche in die Schön Klinik verlegt. Dort verbrachte sie acht Monate. „In dieser Zeit habe ich leider keine Fortschritte gemacht und ich wurde medizinisch auch nicht so eingestellt, dass es mir besser ging“, erinnert sich Hoffmann.
Zusätzlich sei es für sie schwer gewesen, dass ihre Familie in dieser Zeit nicht bei ihr schlafen durfte, sie „oft alleine war und viel im Bett lag“. Hoffmann war klar, dass es so nicht weitergehen konnte. „Psychisch ging es mir dort extrem schlecht“, sagt sie. „Aufgrund der Umstände, mit denen ich dort die vergangenen Monate zu tun hatte, habe ich beschlossen, eine andere Klinik zu suchen.“ Für Hoffmann stand fest, dass sie die Kanüle am Hals loswerden und den E-Rollstuhl durch einen aktiven austauschen wollte. Sie wollte kämpfen.
Dafür ging es nach einer wochenlangen Suche in das „Querschnittgelähmtenzentrum des Rehabilitationskrankenhauses Ulm“. „Hier ging es mir in der ersten Woche direkt deutlich besser“, so Hoffmann. Nicht nur, dass ihre Familie bei ihr übernachten konnte, auch körperlich machte sie große Fortschritte. „Mein Tracheostoma wurde schon am zweiten Tag entfernt. Die Ulmer Ärzte wundern sich bis heute, warum ich das so lang hatte. Ich war kein Intensivfall mehr. Allein das hat mir unglaublichen Auftrieb gegeben“, sagt Hoffmann.
Körperliche Fortschritte nach sechs Monaten
Mehrmals am Tag hatte Lina Hoffmann in der Spezialklinik Ergo- und Physiotherapie. Auch Rollstuhlfahren, Krafttraining und Schwimmen standen auf dem Trainingsplan. Eine Psychotherapeutin stand fünf Tage pro Woche für Sorgen und Fragen zur Verfügung. „In diesen acht Monaten habe ich mich so richtig durchgebissen und dadurch hat sich mein Wesen komplett verändert“, sagt die heute 20-Jährige.
Dabei geholfen haben ihr neben den Therapeuten auch sogenannte „Peers-Berater“, selbst betroffene Querschnittsgelähmte, die in der Klinik in Ulm mit den Frischverletzten arbeiten und ihnen wieder Hoffnung geben. „Eine Querschnittslähmung ist so viel mehr als nur, dass man im Rollstuhl sitzt. Um ehrlich zu sein, ist es mein kleinstes Problem nicht laufen zu können“, sagt Hoffmann. Es gebe so viel, worauf man achten müssen. Vor allem müssen Betroffene schnell in eine Spezialklinik eingeliefert werden. „Ich bin für eine schnelle Klinikreform. Ich möchte nicht, dass andere Verletzte genauso viel Zeit in der falschen Klinik verlieren wie ich“, sagt die 20-Jährige.
Jeden Tag habe sich ihre körperliche Verfassung in Ulm verändert. „Zwar habe ich links immer noch keine Handgelenkfunktion, aber rechts ist sie nach sechs Monaten zurückgekehrt“, sagt Hoffmann. Außerdem konnte sie vom E-Rollstuhl in den Aktivrollstuhl wechseln. Ihre gesamte linke Körperseite sei durch die Therapie beweglicher geworden. „Allerdings ist diese aufgrund einer Spastik stark eingeschränkt“, erklärt sie. Dagegen hilft ihr neben den Medikamenten, auch medizinisches Cannabis und Physiotherapie.
„Will einfach wieder meinen Kater streicheln“
Mittlerweile lebt Lina Hoffmann in ihrer eigenen Wohnung in Augsburg. An den Unfall vor über einem Jahr muss sie immer wieder denken. Wie es zu dem Sturz kam, weiß Hoffmann allerdings kaum noch. Erinnern kann sie sich nur daran, dass sie am geöffneten Fenster auf der Küchenzeile saß. Es folgte ein Schrei und dann fiel sie kopfüber hinunter.
Dass sich ihr Leben seitdem „komplett verändert“ hat, kann die 20-Jährige an manchen Tagen nur schwer begreifen. „Früher habe ich meinen Kater immer hochgehoben und mit ihm gekuschelt“, sagt Hoffmann. Das sei jetzt nicht mehr möglich. „Ich will einfach wieder meinen Kater streicheln können.“ Oder sich selbst schminken, anziehen oder etwas zu essen machen. All das geht nun nicht mehr. Bei allen Aktivitäten ist sie auf jemanden angewiesen. Daher ist eine „24-Stunden Assistentin“ immer an ihrer Seite, die ihr unter anderem bei der Körperpflege hilft, mit ihr einkaufen geht und ihr im Haushalt hilft. „Das ist schon hart und macht einen auch psychisch etwas kaputt, wenn man nie allein ist“, sagt Hoffmann.
Sparen für Assistenzhund und weitere Therapieformen
Auch wenn sie immer in Begleitung ihrer Assistentin ist, ist diese eine große Hilfe in Hoffmanns Alltag. Und auch durch eine Spendenaktion auf der Online-Plattform GoFundMe konnte sie schon etliches in ihrer Wohnung barrierefrei machen. Wie zum Beispiel ein automatisches Bett, womit sie besser umsorgt werden kann und ein verstellbarer Tisch. „Ein Segen wird auch das kürzlich bestellte behindertengerechte Auto sein, womit ich inklusive Rollstuhl transportiert werden kann“, sagt Hoffmann. Weitere Einnahmen aus der Spendenaktion sind für einen Assistenzhund und für weitere Therapieformen wie den Gangtrainer Lokomat gedacht. „Ich möchte weiterhin trainieren, so schnell gebe ich das nicht auf. Eines Tages kommt der Durchbruch in der Forschung, und dafür möchte ich bereit sein.“
Denn Hoffmann will noch viel erreichen. Nächstes Jahr will sie ihr Abitur machen. Und auch auf Social Media möchte sie aktiver werden. Sie will die Menschen an ihrem Leben teilhaben lassen. „Ich möchte anderen Mut machen, denen auch so etwas passiert ist und deren ganzes Leben sich schlagartig verändert hat“, sagt Hoffmann. Es sei gut, wenn man wisse, dass „man nicht alleine da draußen ist“. Sie selbst habe während ihres Krankenhausaufenthalts solche Videos geschaut. „Es hat mir sehr durch diese harte Zeit geholfen.“




