Zu viele Lkw in Marzoll Türk-West
Kampf ums ländliche Idyll: Erweitertes Gewerbegebiet auf Kosten der Anwohner?
Drei neue Hallen sollen im Gewerbegebiet Marzoll Türk-West entstehen. Und das in unmittelbarer Nähe zur Wohnbebauung. Die Anwohner sehen sich einer zusätzlichen Lkw-Belastung ausgesetzt. Doch Flächen für Gewerbe sind in Bad Reichenhall rar. Stehen Gewerbeeinnahmen bei der Kurstadt über dem Wohl einzelner Bürger?
Bad Reichenhall – „Wir haben uns überlegt auszuziehen, denn wir haben nichts mehr von unserem ländlichen Marzoll. Aber wer will schon ein Haus kaufen, wenn diese Hallen gegenüber stehen?“ Christine Dannheuser wohnt in Türk-West, direkt gegenüber vom gleichnamigen Gewerbegebiet. Dass dieses um drei neue Hallen erweitert werden soll, bedrückt sie sehr. Schon jetzt ist der Lkw-Verkehr eine große Belastung für die Anwohnerin: „Es ist nie Ruhe, die Lastwagenfahrer lassen ihre Motoren die ganze Zeit laufen, auch nachts. Wenn ich draußen abwische, ist alles voll.“
Wir treffen uns mit Christine Dannheuser sowie drei weiteren Anwohnern direkt an der Einfahrt zum Gewerbegebiet. Und man muss zugeben: Der Lärm ist für den kleinen Ort schon enorm. In einer guten halben Stunde rauschen mindestens fünf Lastwagen an uns vorüber. Das erste Wohnhaus steht nur rund 50 Meter entfernt. Mit dabei ist auch Manfred Hofmeister, Stadtrat und Vorsitzender des Vereins „Lebenswertes Reichenhall“. Seit Jahren kämpft er gegen eine Ausweitung des Gewerbegebiets in Marzoll. Als ersten Erfolg wertet er die Verhinderung der Abfallanlage im Jahr 2016. Noch im Jahr 2017 sei das Planungsziel im sogenannten Teil B, also der Teil, auf dem die drei neuen Hallen entstehen sollen, ein Mischgebiet bzw. verträgliches Gewerbe gewesen. „Diese Pläne sind 2019/20 still und leise verschwunden.“
„Nachbarn werden einer Maximalbelastung an Emissionen ausgesetzt“
Norbert Scheuerer, der zweite Vorsitzende des Vereins und ebenfalls direkter Anwohner, ärgert sich: „Vor über 30 Jahren begann die Planung des Gewerbegebiets. Es sollte sich an die dörflichen Begebenheiten anpassen. 30 Jahre später setzt man etwas rein, das einem Industriegebiet gleich kommt, nämlich lärmintensives Gewerbe. Die Nachbarn werden einer Maximalbelastung an Emissionen ausgesetzt.“ Scheuerer fühlt sich von den neuen Plänen überrumpelt. „Die Bürger wurden nicht gehört. Die neue Planung wurde an einem Dienstag herausgegeben und war ab Mittwoch im Internet. Am Dienstag darauf sollte schon die Entscheidung fallen.“ Der Planer Wolf Steinert hatte an dem besagten Dienstag, dem 18. April, die neuen Pläne im Stadtrat vorgestellt. Zahlreiche Anwohner waren dabei anwesend.
Das Mischgebiet ist vom Tisch
Mit einem Mischgebiet aus Kleingewerbe und Wohnen wären die Anwohner einverstanden gewesen. „2017 wurde uns das Mischgebiet als eine Art Puffer vorgestellt. Das klang alles super. Es wurde in den höchsten Tönen präsentiert“, so Dannheuser. „Zuerst wohnten wir in dem Haus zur Miete, dann haben wir es gekauft. Jetzt heißt es plötzlich, ein Mischgebiet geht nicht.“ Dannheuser hat Angst um den Wertverlust ihrer Immobilie. Steinert erklärte im Rathaus, dass ein Mischgebiet nur da Sinn mache, wo bereits Bestand ist. Die Hallen würden aufgrund ihrer Lage und Höhe dann genug Puffer zu den Wohnhäusern bilden.
Oberbürgermeister Dr. Christoph Lung befürwortet im Gespräch mit BGLand24.de die Erweiterung. „Es ist zwar richtig, dass ein Mischgebiet in der Diskussion war. Aber ich habe niemals ein Mischgebiet versprochen. Heutzutage macht man das schlichtweg nicht mehr, weil man damit Wohnen und Gewerbe zusammenbringt und das in sich Spannungen trägt.“ Die formale Klassifizierung auf der Baunutzungsverordnung sei nun mal ein Gewerbegebiet. Im Teil B sieht Lung ein „Gewerbegebiet light“. „Man hat allein durch die Nutzung des Teils, der auf Weißbach hin zeigt, die Gewähr dafür, dass der Bereich, der Richtung Türk und den Wohnbereich zeigt, dementsprechend schonend angegangen wird.“ So soll es im Teil B keine Nachtfahrten geben. „Der Gedanke ist, dass man zur Wohnbebauung hin versucht, solche Betriebe anzusiedeln, die eben nicht problematisch sind.“
Gemeinwohl steht über Einzelanliegen
Der Oberbürgermeister erklärt, dass er diese Gespräche mit den Anwohnern auch bereits geführt habe. „Wenn ich irgendwo ein Gewerbegebiet in meiner unmittelbaren Nachbarschaft erweitert bekomme, bin ich auch nicht begeistert. Das ist mir völlig klar. Aber: dieser Bereich war schon immer ein Gewerbegebiet. Man war auch daran gewöhnt, dass nicht mehr so viel Speditionsbetrieb stattgefunden hat. Wir wollen das nun erweitern, aktualisieren und an die jetzigen Begebenheiten anpassen.“ Für Lung steht in diesem Fall das Gemeinwohl für die gesamte Stadt über den Anliegen einzelner Anwohner.
Von Hofmeister und Scheuerer hört man immer wieder die Worte: Gefälligkeitsplanung, Industriegebiet, Logistikdrehscheibe. Lung missfällt dieses Vokabular: „Die Art und Weise, wie über das Projekt von manchen gesprochen wird, macht es nicht besser. Wir haben einige Kritikpunkte aufgegriffen und implementiert. Die Einsicht ist mittlerweile da, dass man nicht alle wird gewinnen können.“ Man achte schließlich darauf, dass der Teil B der deutlich sensiblere innerhalb des Gewerbegebiets wird. Mit dem Versuch, in einer der drei Hallen heimische Handwerker anzusiedeln, sei man auch einen Schritt auf die Anwohner zu gegangen. Hofmeister hält dies für ein „Feigenblatt“. Lung wünscht sich in der Diskussion mehr Sachlichkeit. „Das ist eine ganz altbekannte Taktik. Wir als Stadt müssen aber so planen, dass es für die Zukunft trägt. Mir ist völlig klar, dass ich mich damit nicht überall beliebt mache. Es kann aber nicht sein, dass es nach zehn Jahren zu keiner Entscheidung kommt. Damit ist niemandem geholfen, auch den Anwohnern nicht.“
Wie geht es nun weiter?
Gegen die Planungen vorgehen möchten Hofmeister und die Anwohner auf verschiedenen Ebenen. Zum einen sprechen Schallgutachten eine deutliche Sprache. Das Lärmkontingenz ist derzeit schon aufgebraucht. Zählungen haben zudem ergeben, dass bereits jetzt nachts mehr Verkehr stattfindet als erlaubt. Zum anderen wollen die Anwohner gegebenenfalls gegen die Planungen juristisch vorgehen. Eine dritte Möglichkeit sieht Hofmeister im politischen Bereich: 13 Gegenstimmen bräuchte es im Stadtrat, um die Erweiterung zu verhindern. Eine Anwohnerin, die nicht mit Namen genannt werden möchte, hat sogar alle Stadtratsmitglieder mit der Bitte angeschrieben, den Planungen nicht zuzustimmen. Der Brief liegt der Redaktion vor. Dort heißt es unter anderem: „Möchten Sie angesichts dieser vom Stadtrat und Verwaltung heraufbeschworenen Bebauung mit Logistikhallen, erweitertem Lkw-Verkehr nebst unnötigem Flächenverbrauch vielleicht mit meinem Wohnsitz tauschen?“ Bei der letzten Abstimmung im Stadtrat am 18. April gab es aber nur acht Gegenstimmen. 15 Mitglieder erklärten sich mit der Entwurfsplanung einverstanden. Lung ist sich sicher, eine gute Lösung gefunden zu haben. Die Richtung ist damit vorgegeben. Die Planungen gehen weiter.
mf

