Steinböcke unterm Hakenkreuz
Der Steinbock in den Berchtesgadener Alpen – ein tierisches Relikt aus der NS-Zeit?
Historiker Florian Beierl enthüllt ein fast vergessenes Kapitel aus der NS-Zeit: Die Wiederansiedlung des Alpensteinbocks im Nationalpark Berchtesgaden. Initiiert von Hermann Göring, sind die heutigen Steinböcke Nachfahren dieses Projekts. Die Spuren sind bis heute sichtbar.
Schönau am Königssee – Wenn man heute in der Röth, Teil des Nationalparks Berchtesgaden, einem Steinbock begegnet, schaut man einem Stück Geschichte ins Gesicht. Historiker Florian Beierl hat diese im Kulturhof Stanggaß, beim letzten Wintervortrag des Nationalparks Berchtesgaden, zum Besten gegeben. Es geht um ein beinahe vergessenes Kapitel aus der NS-Zeit, um Reichsjägermeister Göring, ein Prestigeprojekt oberhalb des Königssees – und um ein Tier, das sich wie kaum ein anderes zur Projektionsfläche deutscher Jagdromantik gemacht hat: den Alpensteinbock.
Die majestätischen Tiere, die heute scheinbar selbstverständlich über die Felsen rund um den Funtensee und das Teufelshorn klettern, sind keine ursprünglichen Bewohner der Bergwelt – sondern Nachfahren eines geplanten Prestigeprojekts aus den 1930er-Jahren, sagt Beierl. Initiiert von Hermann Göring, Reichsjägermeister und später einer der mächtigsten Männer im Nationalsozialismus, wurde in der Röth, seit 1978 Nationalparkgebiet, ein aufwendiges Steinwild-Wiederansiedlungsprogramm gestartet – mit eigener Seilbahn, aufwendigen Gatter, Futterstadel und international beschafften Steinböcken. Die Tiere, denen man heute also begegnet, sich Nachfahren aus dieser Zeit. Bis heute sichtbar sind auch noch Spuren im Gelände.
Görings Vision: Ein privates Jagdparadies in der Röth
Was treibt die Machthaber des Dritten Reichs in die entlegene Bergwelt? Hermann Göring war selbst begeisterter Jäger, Reichsforst- und Reichsjägermeister. Beim Jagdausflug in der Röth, einer hoch gelegenen Mulde südöstlich des Königssees, schießt er einen kapitalen Gamsbock. Die alpine Wildnis dieser abgeschiedenen Region packt Göring, weiß Historiker Beierl. Göring hat nun eine Vision: Er will aus der Röth sein privates Jagdparadies machen. Alpensteinböcke sollen zurückkehren in die Berchtesgadener Alpen. Noch im selben Jahr ordnet er an, das gesamte Röth-Gebiet unter strengen Schutz zu stellen. Wanderwege werden gesperrt, Übernachtungen auf der Wasseralm verboten. Die Einheimischen und Bergsteiger reagieren mit Unmut – warum diese restriktiven Regeln? Florian Beierl weiß, warum. Göring hat Großes vor: Im August 1935 lässt Göring die wichtigsten Mitstreiter in seine Jagdhütte in der Röth kommen: Prof. Lutz Heck, Direktor des Zoologischen Gartens Berlin, Forstmeister Ernst Dieterich vom Forstamt Berchtesgaden und Görings Berufsjäger Georg Aschauer. Göring verkündet die Wiedereinbürgerung des Alpensteinbocks in diesem Tal. Er weiß von einem ähnlichen Projekt im nahe gelegenen Blühnbachtal der österreichischen Nachbarn: Dort hatte die Industriellenfamilie Krupp bereits 1927 mit Erfolg Steinböcke ausgesetzt. Warum also nicht auch unweit vor Hitlers Haustür? Göring gibt grünes Licht, stellt großzügig Reichsmittel bereit. Heck soll geeignete Steinböcke beschaffen, während Forstmeister Dieterich vor Ort die Infrastruktur errichtet. Geplant sind drei große Vorhaben: ein ausbruchsicheres Eingewöhnungsgatter für die Tiere, eine leistungsfähige Material-Seilbahn vom Obersee hinauf zum Gatter sowie ein stabiler Futterstadel für Heuvorräte.
Im Frühjahr 1936 rücken Kolonnen von Holzfällern, Jägern und Ingenieuren an. Zunächst wird die Standortfrage geklärt: Zoologe Lutz Heck wählt eine Fläche nahe der Wasseralm in etwa 1500 Metern Höhe als idealen Platz für das Steinwild-Gatter aus. Rund 15 Hektar soll das Gehege umfassen. Im nahen Wald schlagen Arbeiter etwa 600 Lärchenstämme als Zaunpfosten für den Boden, sagt Beierl, sechs Meter lang. Wegen des meterhohen Schnees im Winter plant man den Zaun ungewöhnlich hoch, damit die Tiere nicht fliehen können. Im August 1936 ist das gewaltige Gatter fertig. Parallel dazu entsteht die Materialseilbahn, “einfach gebaut”, sagt Beierl, aber dennoch ein technisch anspruchsvolles Unternehmen in der wenig zugänglichen Gegend. Stützen aus Baumstämmen werden an strategischen Punkten aufgestellt. Bereits im August 1936 – nach nur drei Monaten Bauzeit – ist die Seilbahn betriebsbereit. Gebaut wird die Transportseilbahn von der Talstation, der Hinteren Fischunkelalm am Obersee, bis hinauf in die Röth. Die beeindruckenden Zahlen hat Florian Beierl recherchiert: rund 1100 Meter Seillänge müssen einen Höhenunterschied von 660 Metern überwinden. Die maximale Nutzlast beträgt 250 Kilo, genug für die Kisten, in denen die Steinböcke später transportiert werden. Auf der Neuhüttenalm wird ein Futterstadel errichtet, sagt Beierl. Das Heulager soll dazu dienen, die Steinböcke auch im Winter versorgen zu können. Beierl zeigt etliche Fotos, die er unter anderem in der Library of Congress zusammengetragen hat: aus Aufzeichnungen über Göring.
Aufwendige Infrastruktur und internationale Beschaffung
Zoologe und Mitstreiter Lutz Heck hat für Göring in der Schweiz vier Alpensteinböcke erworben – einen Bock und drei Geißen aus dem Wildpark Peter und Paul in St. Gallen. Ihr Weg in die Röth ist abenteuerlich: Die Tiere werden in speziellen Holzkisten verpackt und per Lkw durch das Reich bis nach Berchtesgaden gebracht. Dort geht es zum Königssee und weiter über das Wasser: Landauer bringen die kostbare Fracht bis zur Haltestelle Salet am Obersee. Forstarbeiter schleppen schwer. Über den Obersee geht es hinüber zur Fischunkelalm. Dort werden die Kisten ans Seil gehängt und den Berg hinauf befördert. Die Presse erfährt von all dem zunächst wenig. Das Projekt ist Görings Privatsache. Erst später, als sich die Steinböcke etwas eingewöhnt haben, sickern Nachrichten an die Öffentlichkeit durch. In den folgenden Jahren wird der Bestand schrittweise aufgestockt. Weitere Lieferungen treffen ein: 1937 kommen ein Steinbock und eine Geiß aus dem Berliner Zoo, ein Jahr später bringt der Tierpark Hellabrunn in München ein weiteres Pärchen. Ein tierisches Geschenk kommt von Benito Mussolini, Ministerpräsident des Königreichs Italien, weiß Florian Beierl. Aus Freude über die Leihgabe taufen ihn die Jäger patriotisch den “Italiener”. Die NS-Propaganda entdeckt das Steinwild-Projekt zunächst zögerlich. 1938 gelingt die erste Geburt eines Steinbockkitzes in der Röth. Lokale Parteiblätter feiern das enthusiastisch als Erfolg deutschen Wildtiermanagements. Beierl zeigt Fotografien von Göring umringt von Förstern. “Die meisten Bilder sind inszeniert”, weiß Florian Beierl.
Allerdings hat das Projekt tatsächliche Schwierigkeiten. Schon der erste Winter 1936/37 wird zur Bewährungsprobe, so Beierl. In der Röth fällt Schnee meterhoch, die Futterstellen sind zugefroren. Die eingeschlossenen Steinböcke finden keinerlei Nahrung unter der dicken Schneedecke. Mehrere Jäger kümmern sich um die Versorgung der Tiere im unwirtlichen Gelände. Mit der Seilbahn werden Heuballen nach oben befördert. „Die Wildhüter müssen auf Skiern das Futter bringen“, so Beierl. Ganz nach Görings Befehl.
Einige Tiere werden krank. Die Räude wird zum Thema. Der Parasitenbefall gefährdet das ungewöhnliche Steinbockvorkommen. Zudem fehlt den Tieren der natürliche Auslauf. Für alpine Fluchttiere sei es auf Dauer zu beengt gewesen, sagt Historiker Beierl. Ebenso aus bleibt der erhoffte Nachwuchs-Boom. Zwischen 1938 und 1943 werden insgesamt nur neun Kitze geboren. Bis 1942 gibt es trotz Nachlieferungen gerade einmal einen Netto-Zuwachs von fünf Tieren. Fachleute beginnen zu zweifeln, ob das Projekt jemals echte Wildbestände hervorbringen wird. Öffentlich wird darüber geschwiegen – man will Görings Prestige nicht schmälern.
Kriegszeiten und das Ende des Prestigeprojekts
Während in den Alpen das Steinwild ums Überleben kämpft, taumelt Europa ab 1939 in den Krieg. Das Geld, das für die Steinböcke zur Verfügung stand, wird nun an anderer Stelle benötigt, sagt Florian Beierl. Für die Steinböcke bedeutet das: das Entlassen in die freie Wildbahn. Im Chaos des Krieges kann niemand mehr für ihr Wohlergehen garantieren. Es ist nicht das Ende der Steinböcke, sondern ein Neuanfang. 1944 sind es acht Böcke und 15 Geißen, die sich allmählich im Grenzgebiet verteilen, sagt Florian Beierl. Sie vermischen sich mit ihren Artgenossen aus dem österreichischen, nebenan gelegenen Blühnbachtal. Die Berchtesgadener Steinböcke schließen sich ihren österreichischen Artverwandten an und suchen sich selbstständig die besten Lebensräume.
Hermann Göring befindet sich 1945 in alliiertem Gewahrsam und begeht im Oktober 1946 Selbstmord. Das Steinwild-Projekt ist da längst vergessen. Die Seilbahn wird stillgelegt, der Motor als kriegswichtiges Metall an die Forstdirektion in München abgeliefert. Was noch verwertbar ist, holt man herunter: Um das schwere Zaunmaterial ins Tal zu bekommen, greifen die Männer zu einer kuriosen Methode: Sie hängen die Drahtrollen ans Seil der Seilbahn und lassen sie ins Tal hinabgleiten. Die Holzbauten des Projekts überdauern noch ein paar harte Winter, dann zerfallen sie. Die Stationen oben und unten werden vom Wetter zermürbt und stürzen ein. Übrig bleiben jedoch einige Artefakte, die selbst die Jahrzehnte überstehen: An der Fischunkelalm ragt noch heute ein massiver Betonblock aus dem Boden – der einstige Anker der Talstation. „Ob sich das Denkmalamt damit jemals befassen wird, weiß ich nicht“, sagt Florian Beierl. Die Überbleibsel werden aktuell zumindest dem Verfall überlassen. kp
