Allein im April 30 Fahrten mit dem Fahrrad
„Es ist wie eine Sucht“: Georg Fendt (86) aus Bischofswiesen hat 3100 Mal den Untersberg umrundet
3100-mal hat er den Untersberg umrundet, über 160.000 Kilometer im Sattel. Das entspricht mehr als vier Erdumrundungen – und all das im Alter von 86 Jahren. Georg Fendt, ehemaliger Schlosser aus Bischofswiesen, fährt seit mehr als einem Jahrzehnt täglich Rad. Keine elektrische Unterstützung, kein Schnickschnack-Fahrrad – nur Muskelkraft, Disziplin und eine Routine, die sich tief in sein Leben eingeschrieben hat.
Bischofswiesen/Grödig - Wenn andere noch schlafen, zieht er sich wetterfest an, steigt auf sein Fahrrad und fährt los. Frühmorgens, bei Temperaturen um derzeit fünf Grad Celsius, wenn die Straßen noch einigermaßen leer sind und der Tag erst beginnt. Sommer wie Winter. Der Untersberg, diese massive Felsgestalt zwischen Bayern und Salzburg, ist sein tägliches Ziel. Einmal drumherum. Jeder Tag wird notiert. Seine mit Heftklammer zusammengefügten Jahreskalender sind voll mit Eintragungen. Im April hat er 30 Mal den Untersberg umrundet.
Wenn ich nicht fahren kann, fehlt mir etwas.
Fendt fährt nicht für Medaillen oder die Öffentlichkeit. Wer ihn morgens etwa an der B 305 sieht – allein, gegen den Wind, im konstanten Rhythmus der Pedale – sieht einen Mann, für den das Radfahren zum Lebenselixier geworden ist. Kein moderner Tacho, keine Selfies zwischendurch, keine digitale Vermessung seiner Leistung. „Es ist wie eine Sucht. Wenn ich nicht fahren kann, fehlt mir etwas“, sagt er. Was für viele unvorstellbar klingt, ist für ihn existenziell. Es geht um das Fortkommen. Um das Durchhalten. Um ein gesundes Leben.
Nicht nur in der Freizeit in Bewegung
Geboren 1939, absolvierte Fendt eine Ausbildung zum Schmied und Schlosser. Seine beruflichen Stationen sind so international wie sein sportlicher Ehrgeiz eindrucksvoll: Südafrika, Peru, Mexiko. Überall arbeitete er an Großprojekten, schweißte Öltanks, montierte riesige Dammröhren. „1965 bin ich ausgewandert“, erzählt er. Vier Jahre blieb er fort, bevor er wieder heimkam. Später arbeitete er bei der Bundeswehr und für die in Berchtesgaden stationierten Amerikaner. Bewegung bestimmte eben nicht nur seine Freizeit, sondern auch seine Arbeitsbiografie: immer auf Achse, immer mit Ziel.
Ich bin einfach gefahren.
Auch sportlich war er nie ein Mensch der halben Sachen. Er stand auf dem Matterhorn, erklomm den Monte Kenya, fuhr mit Skiern am Mont Blanc und Monte Rosa. Bergradfahren in Zeiten, als Bergräder noch gar nicht richtig existierten? Für Fendt kein Hindernis - er fuhr mit dem Rennrad. Er strampelte auf dünnen Reifen hinauf zur Kallbrunner Alm, über die Saugasse in Richtung Funtensee. „Ich bin einfach gefahren“, sagt er und zuckt mit den Schultern, als wäre es das Normalste der Welt.
Aufgeben und zurückziehen? Nicht mit Fendt
Dann kam der Einschnitt: eine neue Hüfte. Die Schmerzen machten Skitouren unmöglich. Statt sich zurückzuziehen, sattelte er um – im Wortsinn. Mit 72 Jahren kaufte er sich wieder ein Bergrad. Seither fährt er – konsequent, täglich und kilometerreich. Seine Standardrunde umfasst 49 Kilometer, führt über Bischofswiesen bis zum Hallthurm, vorbei am Freilichtmuseum auf österreichischer Seite, durch einen Wald bei Fürstenbrunn und über Marktschellenberg zurück. Die Route ist nicht nur körperlich fordernd, sie ist auch seine ganz bewusst gelebte Meditation, ein selbstgewähltes Ritual.
Georg Fendt startet mit Müsli, Milch und Cappuccino in der Früh. Zwei Stunden und 45 Minuten dauert eine durchschnittliche Umrundung. Im April dieses Jahr fuhr er 1470 Kilometer, im gesamten Vorjahr waren es 16.072 Kilometer. Seine Ausrüstung ist pragmatisch: ein knapp 15 Jahre altes Sommerrad, zwei ältere Winterräder mit Spikes. „Die räumen oft schlecht am Hallthurmer Berg“, sagt er und lacht. Denn Stürze hatte er schon jede Menge.
Unfälle halten ihn nicht auf
Dennoch verzichtet er auf seinen Helm, der im Schrank liegen bleibt. Der würde ihn stören. Das Risiko nimmt er in Kauf. Bremsen, Pedale, Lager – Fendt muss häufig Ersatzteile tauschen. Jedes Jahr braucht er neue Reifen. „Für das Geld hätte ich mir längst zwei neue Räder kaufen können“, sagt er. Und doch hängt er an jedem seiner alten Räder, die ihn schon so weit getragen haben.
Gefährlich sei nicht die weite Strecke, sondern der Verkehr. „Die Österreicher sind die Schlimmsten”, sagt er. Vor ein paar Tagen hätte ihn ein Autofahrer auf Höhe der Untersbergbahn fast vom Rad geholt. Einmal stürzte er im Januar auf gefrorenem Asphalt, verletzte sich an der Schulter. Mehrere Tage Pause – dann fuhr er weiter. Unfälle gehören für ihn zur Realität dazu – nicht als Risiko, sondern als Teil der Strecke. Die Haltung dahinter: nicht jammern, sondern neu aufsteigen.
Seine Umrundungen dokumentiert er. Andere Fahrten – etwa an die Côte d’Azur, nach Monaco oder in die Lüneburger Heide – schreibt er nicht mit. Er sagt es beiläufig, als sei es nichts Besonderes. Dabei könnte er längst ein Buch füllen. Sein Enkel meint: „Du gehörst ins Guinness-Buch der Rekorde.“ Fendt lacht, wenn er das sagt. Dass er mal ein Buch schreibt, hält er für unwahrscheinlich. „Eher nicht.”
Elektrischer Schnickschnack kommt nicht infrage
Warum das alles? Disziplin. Bewegungsdrang. Fendt lebt in der Bewegung, nicht im Stillstand. Ein E-Bike kommt für ihn nicht infrage. „Solange ich so fahren kann, fahre ich meine Räder weiter.“ Die elektrische Unterstützung empfindet er als Eingeständnis. Er will wissen, was der Körper noch zu leisten im Stande ist.
Georg Fendt macht das, was viele in seinem Alter längst aufgegeben haben: Er bleibt in Bewegung. Weil es ihm guttut. Radfahren ist für ihn keine Herausforderung, sondern eben Alltag – so selbstverständlich wie das Zähneputzen. Aufsitzen und losfahren. Keine Ausreden, kein Zögern. „Momentan macht’s mir richtig Spaß“, sagt er. Morgen früh sitzt er wieder auf dem Rad. In der Früh, bevor es richtig hell wird. In Richtung Gegenwind. (kp)

