Jahrelange Recherche von Ulrich Chaussy
Leben eines Unbekannten: Wie Aspirin-Erforscher Eichengrün vom Obersalzberg vertrieben wurde
Erfolgreicher Geschäftsmann, Jude, schließlich Verfolgter der Nazis am Obersalzberg: Arthur Eichengrün, Pharmazeut, Chemiker und Aspirin-Erfinder. Der Münchner Investigativ-Journalist Ulrich Chaussy (Oktoberfest-Attentat) hat über den Mann, dem die Welt den Blutverdünner verdankt, ein Buch geschrieben: „Arthur Eichengrün. Der Mann, der alles erfinden konnte, nur nicht sich selbst”. In Berchtesgaden gab der Träger des Bundesverdienstkreuzes Einblicke in das Schicksal des Erfinders, zeitweiligen Obersalzbergers und schließlich Verfolgten des NS-Regimes.
Berchtesgaden – Arthur Eichengrün war an der Entdeckung von Aspirin, „dem erfolgreichsten Medikament der Medizingeschichte”, entscheidend beteiligt, sagt Journalist Dr. Ulrich Chaussy. Seit Jahren beschäftigt sich Chaussy mit dem Leben des jüdischen Chemikers, der 17 Jahre lang am Obersalzberg in den Ferienzeiten zuhause war. Chaussy sprach mit vielen Nachkommen, die weltweit verstreut leben. Er hatte Einsicht in Tagebücher und private Aufzeichnungen. Akribisch tauchte er in das Leben des Wahl-Berchtesgadeners ein, auf den er während einer Recherche Ende der 1980er-Jahre am Obersalzberg gestoßen war.
Von Eichengrün gibt es nur ein überliefertes Interview. „Ich entdeckte dabei die Geschichte hinter der Geschichte”, sagt Chaussy. Seit Ende der 1980er-Jahre recherchiert Chaussy nun im Leben des Juden Arthur Eichengrün, dessen Person lange Zeit als vergessen galt. Der Journalist hat sich tief eingegraben in das Leben eines weitestgehend unbekannten Obersalzbergers. „Meine Frau kann den Namen nicht mehr hören”, sagt Chaussy während einer Signierstunde seines neuen Buches in Berchtesgaden. Dort las der Investigativ-Journalist aus seinem Werk, begleitet von Blues-Musiker Schorsch Hampel sowie dem Schauspieler Peter Weiß, der szenisch in die Rolle von Arthur Eichengrün schlüpft.
„Arthur Eichengrün verbrachte alle Ferien am Berg”, sagt Ulrich Chaussy. Seine zweite Frau Madeleine hatte 1915 das „Haus Mitterwurf” erworben, ein Feriendomizil in guter Lage. Das Haus am Berg, unweit des ehemaligen Hotel Türken – in das später der für Hitlers Personenschutz zuständige Reichssicherheitsdienst einziehen sollte –, diente ebenso als Erholungsort für Eichengrüns Kinder. Sie hatten Probleme mit der Lunge.
Familie war am Obersalzberg gut integriert
Der Familie Eichengrün gelang es, fester Bestandteil der Obersalzberger Gesellschaft zu werden: Wenn Eichengrüns Kinder Hille und Hans-Günther Geburtstag feierten, waren die Berchtesgadener Nachbarskinder eingeladen. Dann gab es am Tisch Kakao und Wurstbrote und für jedes Kind ein Kleidungsstück als Geschenk, wie sich Johanna Stangassinger erinnert. Ulrich Chaussy hatte die bereits verstorbene Obersalzbergerin vor Jahrzehnten als Zeitzeugin interviewt. „Das waren die schönsten Feste”, hatte sie zu ihm damals gesagt. Ulrich Chaussy interviewte für seine Eichengrün-Recherchen viele Einheimische, sagt er.
Die Eichengrüns seien gern gesehene Leute gewesen. Man pflegte ein gutes Miteinander. Arthur Eichengrün wirkte vollständig integriert in das Leben auf dem Berg, sagt Chaussy. Der 71-Jährige, der unter anderem durch seine Recherchen am Oktoberfest-Attentat im Jahr 1980 Bekanntheit erlangt hat, gilt als Experte zum Nationalsozialismus. Für das Institut für Zeitgeschichte München-Berlin wird er immer wieder als Hitler-Experte herangezogen. Chaussy hat das viel beachtete Buch „Nachbar Hitler” geschrieben, über dessen wirkmächtiges Handeln in Berchtesgaden, die Vertreibung der Bevölkerung, den Aufbau des Führersperrgebiets am Obersalzberg.
Wissenschaftler mit vielen bahnbrechenden Erfolgen
Arthur Eichengrün hat in seinem Leben viel erreicht, weiß Chaussy. Er hat bahnbrechende Erfolge erzielt, er gilt als Kunststoffpionier. Eichengrün war an insgesamt 47 Patenten beteiligt. Der Kunststoff Cellon wurde von ihm entwickelt. Zu seinen Erfindungen zählen „Schallplatten aus Cellon“. Eichengrün erhielt 1909 ein Patent auf Cellon, mit dem etwa der Bespannstoff von Flugzeugen zur Glättung und Abweisung von Wasser eingestrichen wurde.
Bereits Ende des 19. Jahrhunderts hatte Arthur Eichengrün bei „Bayer” das Silberpräparat „Protargol” entdeckt. Einsatz fand es im Kampf gegen die umgangssprachlich als Tripper bekannte Gonorrhoe, eine sexuell übertragbare Geschlechtskrankheit. Eichengrün machte durch seine erzielten Provisionen viel Geld. Er wurde zum wohlhabenden Mann, weiß Ulrich Chaussy.
Schon zuvor war Eichengrün an der Entdeckung des heute weltweit verbreiteten Medikaments Aspirin beteiligt. Er arbeitete im pharmazeutischen Labor der Firma „Bayer” an der Erforschung neuer Arzneimittel. Ruhm für die Beteiligung an der Entwicklung gab es kaum, bei „Bayer” bestreitet man – laut Ulrich Chaussy – seine entscheidende Beteiligung: Während der Aspirin-Wirkstoff durch das Prüflabor fiel, war Eichengrün von der Acetylsalicylsäure überzeugt und erprobte das Mittel an sich selbst und befreundeten Medizinern. Die auf diese Weise gesammelten Daten holte sich Eichengrün „illegal”, wie Journalist Ulrich Chaussy vor drei Jahren berichtete. Aspirin erreichte schließlich Marktreife. Den Ruhm erhielt nicht er, sondern andere dafür.
Vertreibung durch das NS-Regime
Als Adolf Hitler schließlich auch Gefallen an Berchtesgaden und dem Obersalzberg fand, war die Zeit des idyllischen Dorflebens am Berg vorbei. „Hitler und sein Mentor Dietrich Eckart verband der obsessive Hass gegen Juden”, sagt Chaussy. Auch am Obersalzberg begann die Hasspropaganda 1923, zunächst noch ohne spürbare Auswirkungen auf die Nachbarschaft.
Der Obersalzberg war zu dieser Zeit ein touristisches Sehnsuchtsziel für Sommerfrischler. Eichengrün war einer davon. Weitere erfolgreiche Unternehmer hatten sich angesiedelt, Gasthöfe und Fremdenpensionen standen den Gästen zur Verfügung. Bald standen die Häuser aber Hitler im Weg – die Absiedelung war eine beschlossene Sache. Hitler verwirklichte den sogenannten Führersperrbezirk am Obersalzberg. Bewohner wurden mit Geld weggelockt, mussten weichen, auch mit Zwangsmitteln.
„Der Antisemitismus wurde von Familie Eichengrün anfangs am Obersalzberg nicht als Bedrohung wahrgenommen”, weiß Ulrich Chaussy. Für Arthur Eichengrün und dessen Familie wurde es ab 1928 fühlbar unangenehm. Denn Hitler war nun Eichengrüns Nachbar, wohnte unweit im Haus „Wachenfeld”.
Eichengrüns Tochter Hille fand ein Drohschreiben im Briefkasten, die Familie ging damit zur Polizei, erstattete Anzeige, die Ermittlungen verliefen aber im Sande: Der Judenname allein genügte für Hitlers Vertreibungswunsch. Für die Eichengrüns war der Zauber am Berg verloren gegangen. „Er war mürbe geworden“, sagt Chaussy. Die Familie verkaufte das Mitterwurflehen 1932. Auch andere Obersalzberg-Bewohner mussten in der Folge den Berg verlassen, wurden enteignet oder vertrieben oder verkauften zum Spottpreis. „Der Obersalzberg war damit auch judenfrei.”
Eichengrün überlebte KZ Theresienstadt
In beruflicher Hinsicht musste Eichengrün Rückschläge einstecken: Er war gezwungen, die Leitung der einst erfolgreich geführten Cellon-Werke abzugeben. Auf diese Weise sei die Arisierung vorangetrieben worden, weiß Chaussy. Eichengrüns Kinder hatten zu diesem Zeitpunkt Deutschland bereits verlassen. Der Chemiker blieb und bezahlte Bestechungsgeld. Er wohnte mit seiner dritten Frau in Berlin. Eine Haftstrafe musste er schließlich antreten, als er einen Antrag für eine Erfindung an das Patentamt stellte. Der Vorwurf: Eichengrün habe seinen Zwangsbeinamen „Israel” unterschlagen. Er musste in das Konzentrationslager Theresienstadt. Später wurde Arthur Eichengrün durch die Russen befreit. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er in Bad Wiessee, wo er Ende 1949 schließlich starb.
kp