Obersalzberger Gespräch
War Hitler ein Kinderfreund? Familienleben im Führersperrgebiet und der Umgang der „Täterkinder“
Den Endsieg planen und zwischendurch beim Kaffeekränzchen mit Kindern spielen? So ungefähr lief es zu Zeiten des Führersperrgebiets auf dem Obersalzberg ab, als die mächtigsten Nazis dort verweilten. Denn während Goebbels, Bormann, Speer und Co. zusammen mit Hitler zentrale Entscheidungen des Regimes trafen, spielten die Familien eine ganz bedeutende Rolle. Doch: War Hitler wirklich ein Kinderfreund? Die Historikerin Helena Schwinghammer lieferte im Berchtesgadener AlpenCongress spannende Einblicke in eine Welt zwischen Idylle, „Freundschaften“ und den Umgang der „Täterkinder“ mit ihrer Vergangenheit.
Berchtesgaden - Die 26-Jährige hatte es sich im Rahmen ihrer Masterarbeit zur Aufgabe gemacht, die Kinder, die den „Führer“ damals an seinem 54. Geburtstag umgaben, zu identifizieren und ihren späteren Umgang als Erwachsene mit ihrer Kindheit zu beleuchten. Denn damit waren sie Teil der Berghof-Gesellschaft und kamen in den Genuss eines privilegierten Lebens, wie es Schwinghammer betonte. „Ganzjährig am Obersalzberg zu wohnen und dort ein idyllisches Leben zu führen, das war nur wenigen vorbehalten“, erklärte sie den rund 130 Zuhörern, die das Obersalzberger Gespräch der Dokumentation verfolgten.
Denn: Der Obersalzberg war ein hochpolitischer Ort, in dem zahlreiche NS-Größen und andere Staatsgäste ein und aus gingen. Doch zugleich handelte sich um Hitlers privates Umfeld, und weil manche Familien wie die Bormanns und Speers dauerhaft hier oben ihr Leben führten, brauchte es eine passende Infrastruktur. Teehaus, Kino, ein Atelier und ein Kindergarten in zentraler Lage, der sogar einen Zugang zum unterirdischen Bunkersystem hatte: Wie Schwinghammer erläuterte, „sollte es den Familien an nichts fehlen“. Hinzu kamen Dutzende Bedienstete und Angestellte, die sich um deren Wohlergehen kümmerten.
NS-Ideal verkörpert
Im Führersperrgebiet war durchaus einiges los: Martin und Gerda Bormann lebten hier mit neun Kindern, Albert und Margarete Speer mit sechs. Und wenn noch die Familie Goebbels auf dem Obersalzberg verweilte, kamen sieben weitere Kinder dazu. Damit bekam der Ort einen privaten Anstrich. „Die NS-Größen verkörperten das Ideal kinderreicher Familien“, schilderte die Historikerin, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Zeitgeschichte in München arbeitet. Göring, Goebbels und Co., allesamt verurteilte Kriegsverbrecher, sich als Familienväter vorzustellen, sei auch ihr anfangs bei den Forschungen schwergefallen.
Doch darum ging es damals: Das Privatleben verschmolz mit der Politik. Und Letztere überwog auch im Familienalltag: Natürlich gingen die Buben und Mädchen auch in den Kindergarten oder zur Schule, zum Teil sogar außerhalb des Führersperrgebiets. „Doch indem sich die Kinder und Familien untereinander anfreundeten und ein Netzwerk erschufen, entwickelten sich Bündnisse unter den Vätern“, so Schwinghammer. So spielten die Mädchen und Buben nicht zufällig miteinander, sondern repräsentierten die jeweiligen Bündnisse und Rangfolgen.
„Keine Trennung mehr“
Es entwickelten sich durchaus auch Antipathien, hervorgerufen durch Konkurrenzdenken. „Die Familie Göring war das beste Beispiel dafür, dass es nicht alle in diesen elitären Kreis gepackt haben. Diese Welt stand nicht jedem offen und man musste dafür arbeiten“, so Schwinghammer.
Es ging stets darum, möglichst nah an Hitler zu kommen und jede Gelegenheit, und wenn es nur um Kaffeekränzchen im Berghof mit dem „Führer“ ging, zu nutzen. Akzeptanz durch Präsenz: Die Kinder waren der Schlüssel für die Kontakte. Auch wenn vieles schwierig zu rekonstruieren sei, weil es an wissenschaftlichen Primärquellen mangele, habe Hitler durchaus eigene Pläne verfolgt. „Es gab keine Trennung mehr zwischen dem privaten und beruflichen Leben, also entstanden Abhängigkeiten“, meinte die 26-Jährige.
Hitler als „Eheretter“
Als es in der Ehe zwischen Joseph und Magda Goebbels kriselte, habe Hitler für ein klärendes Gespräch gesorgt. „Das Ziel war klar: Die NS-Ideale durften nicht gefährdet werden. Und der Zustand der Goebbels-Familie war keine Privatsache mehr, sondern von nationaler Bedeutung wegen der Propaganda.“ Auch deshalb gab es anschließenden einen Foto-Termin, der veröffentlicht und verbreitet wurde, um die „heile Familienwelt“ und den überfürsorglichen „Führer“ der Außenwelt zu präsentieren.
Hitler selbst nahm dabei durchaus die Rolle eines Familienmitglieds ein und wurde auf dem Obersalzberg auch „Onkel Adolf“ genannt. „Auftritte mit Kindern wurden natürlich inszeniert“, sagte Schwinghammer und verdeutlichte dies an einem bekannten Bild der kleinen Helga und Hilde Goebbels im Illustrierten Beobachter, einer Wochen-Zeitschrift der NSDAP. In der Ausgabe vom 13. Januar 1938 waren die beiden Mädchen zu sehen, wie sie Hitler ein Tänzchen aufführten. „Es war wichtig, ihn als menschlich und nahbar darzustellen.“
Aussagen in den Kontext setzen
Ob Hitler wirklich ein Kinderfreund war oder die Gelegenheiten nur zur Inszenierung und Propaganda nutzte? „Darauf gibt es keine klare Antwort“, erläuterte die Historikerin und machte dies auch am Beispiel der unterschiedlichen Aussagen von Goebbels und Speer deutlich.
Während Ersterer den „Führer“ in seinem Tagebuch für den Umgang mit den Kindern lobte, zweifelte Speer den „Kinderfreund“ an und fragte sich, ob er überhaupt Interesse an ihnen habe. Er warf ihm eine Distanzlosigkeit vor. „Man muss diesen Aussagen immer in den Kontext setzen: Goebbels wollte in der Gunst von Hitler bleiben, während Speer mit seinen Aussagen nach Kriegsende versuchte, Distanz zu schaffen.“ Auch hier habe sich die zusätzliche Ebene der Abhängigkeit gezeigt, befand die 26-Jährige.
Familien gingen mit dem Kriegsende unterschiedlich um
Für das vorzeitige Kriegsende zeigten sich bei den Familien drei „Exit-Strategien“, wie es die Münchenerin dem Publikum beschrieb. „Während Speer erkannte, dass er mit seiner Familie nicht mehr auf dem Obersalzberg sein durfte und sich auch darauf schon vorbereitete, war Bormann davon überzeugt, das Kriegsende nicht zu überleben.“ Er habe seiner Frau in Briefen mitgeteilt, dass sie das Führersperrgebiet verlassen solle, doch sie habe den Schriftwechseln zufolge bis zuletzt an den „Endsieg“ geglaubt. Die Goebbels ermordeten ihre Kinder und nahmen sich dann selbst das Leben.
Wie schwierig die (wissenschaftliche) Bewertung der jeweiligen Kindheiten auf dem Obersalzberg fällt, verdeutlichte Schwinghammer gegen Ende ihres Beitrags. Sie seien keine „Täterkinder“ in dem Sinne, dass sie für Taten verantwortlich zu machen seien. „Sie spielten keine aktive Rolle am Nationalsozialismus. Aber es spielte eine Rolle, wie sie später als Erwachsene mit ihrer Vergangenheit umgingen.“
Der schwierige Umgang mit der eigenen Kindheit
Und hier gab es sehr wohl deutliche Unterschiede unter den „Promi-Kindern“, wie Interviews und selbst verfasste Bücher zeigten. Laut Schwinghammer zeigte Magret Nissen (ehemalige Speer) in ihren Äußerungen „wenig kritische Distanz“. Adolf Martin Bormann, von den Eltern zu Ehren des „Führers“ so genannt, wählte dagegen den Weg als römisch-katholischer Geistlicher, schilderte mehr Details aus seiner Kindheit und setzte diese Erlebnisse kritisch in den Gesamtkontext.
So groß war nicht jeder Bruch mit der eigenen Vergangenheit, wie es versucht wurde zu vermitteln.
Viele „Promi“-Kinder stellten in der Nachkriegszeit gegenüber der Gesellschaft den sozialen Abstieg zum „Täterkind“ dar. Doch Schwinghammer betonte: „So groß war nicht jeder Bruch mit der eigenen Vergangenheit, wie es versucht wurde zu vermitteln.“ So habe beispielsweise Albert Speer jr. danach als Stadtplaner, Architekt und Hochschullehrer ein durchaus gutes Leben geführt, trotz des schlechten Images seines Vaters.
Auch Frauen als „flammende Nationalsozialistinnen“
Überhaupt stellte sich für die 26-Jährige die Frage, wie man auf dem Weg zur historischen Wahrheit - falls es diese gibt - mit Quellen umgehen soll. Denn: Primärquellen, also damals von den Kindern beispielsweise geschriebene Briefe oder gemachte Fotos, gab es nicht. „Und im Nachhinein versuchten sie als Erwachsene, ihre Geschichte selbst zu schreiben“, verdeutlichte die Historikerin die Schwierigkeit bei den Forschungen. Nicht zu vergessen, dass manche einfach zu klein waren und dementsprechend wenige oder gar keine Erinnerungen an ihre Zeit auf dem Obersalzberg hatten. Doch Schwinghammer meinte: „Sie waren nur Kinder, aber ihre Kindheit war alles andere als unpolitisch.“
Ein Zuhörer machte bei der rege genutzten Fragerunde darauf aufmerksam, dass auch Frauen damals als „flammende Nationalsozialistinnen“ auffielen. Dazu habe auch Gerda Bormann gehört, die ihre Kinder sicherlich streng nach der nationalsozialistischen Ideologie und des Antisemitismus erzogen habe. „Wie viel von diesem NS-Bild bei den Kindern hängengeblieben ist, das wissen wir nicht“, entgegnete Schwinghammer. Alle Nachkommen hätten das abgestritten, was durchaus verständlich sei.
„Die Erziehungsarbeit ist sicherlich ein interessantes Thema für künftige Forschungsarbeiten“, deutete die 26-Jährige an, dass noch viele Fragen und Antworten offen sind - sofern sie überhaupt klar erforscht werden können. (ms)


