An Allerheiligen 1999
25 Jahre danach: Der Amoklauf von Bad Reichenhall und seine ungelösten Fragen
Der Amoklauf von Bad Reichenhall liegt inzwischen schon ein Vierteljahrhundert zurück. Am 1. November 1999 erschoss ein 16-Jähriger vier Menschen und verletzte fünf weitere, bevor er sich selbst richtete. Der Fall beschäftigte auch lange Zeit das Oberbayerische Volksblatt. Was sich seitdem geändert hat und warum es dazu keine Gedenkveranstaltung gibt.
Bad Reichenhall – Seine Eltern sind an diesem Allerheiligen-Feiertag beim Friedhof. Die Schwester des Täters kommt gegen Mittag nach Hause. Um diese Zeit beginnt der Jugendliche, aus zwei Fenstern der Wohnung in der Riedelstraße zu schießen. Ein benachbartes Ehepaar wird von den Kugeln tödlich getroffen. Ein Patient des gegenüber liegenden Krankenhauses, der zum Rauchen vor dem Eingang steht, erliegt später seinen Verletzungen. Das vierte Todesopfer: die 18-jährige Schwester des Schützen.
Neben dem Schauspieler und „Tatort“-Kommissar Günter Lamprecht, der dabei ist, sich zu einer Untersuchung in das Krankenhaus zu begeben, werden auch dessen Lebensgefährtin Claudia Amm sowie sein Fahrer und zwei weitere Personen verletzt. Nachdem es der Polizei nicht gelingt, Kontakt mit dem Schützen aufzunehmen, stürmt ein Sondereinsatzkommando der Polizei schließlich um 17:31 Uhr die Wohnung und findet den Täter tot in der Badewanne. Der Tag des Amoklaufs wird für immer zu den dunkelsten Stunden der Geschichte der Kurstadt gehören.
Berichterstattung vom 2. November 1999
Am Tag nach der Tat berichtet das Oberbayerische Volksblatt (OVB) von dem Blutbad: „Er galt als Einzelgänger, der von seinen Mitschülern gern gehänselt wurde. Nachbarn beschrieben ihn als braven, anständigen Buben.“ Er habe wahllos auf alles geschossen, was sich bewegt. „Nach Angaben der Polizei hatte sich der Jugendliche mit mehreren Langfeuerwaffen und einer großen Menge Munition im Wohnhaus seiner Eltern in unmittelbarer Nähe des Städtischen Krankenhauses verschanzt. Er hatte sich Zugang zum Waffenschrank seines Vaters verschafft, der Mitglied in einem Schützenverein ist.“
Das Gebiet sei umgehend von Polizeikräften abgeriegelt worden. Zur Unterstützung seien Feuerwehr, Bundeswehr und Rettungskräfte vor Ort gewesen. „Nur unter Einsatz ihres Lebens hatten Beamte am Nachmittag mit der gepanzerten Dienst-Limousine von Ministerpräsident Edmund Stoiber die verletzten Opfer aus dem Schussfeld geborgen.“ Stoiber sei zur Tatzeit in der Gegend unterwegs gewesen, um sich mit Kurt Biedenkopf in dessen Ferienhaus zu treffen.
Über das Motiv des Täters herrscht zu diesem Zeitpunkt noch Unklarheit. Er soll Nazibilder in sein Hausaufgabenheft geklebt haben und ein Waffennarr sein. Es werden Parallelen zum Amoklauf in Littleton gezogen, der ein halbes Jahr zuvor stattfand. Zudem listet das OVB in einer Chronik die schlimmsten Amokfälle seit 1990 auf und erklärt, dass es sich bei den Tätern zu 99 Prozent um Männer handle.
Die Folgetage
Am 3. November 1999 herrscht laut OVB „Ratlosigkeit über Motive des Amokschützen“. Drogen und Alkohol hätten laut Obduktion keine Rolle gespielt. Ein Polizeisprecher erklärt, der 16-Jährige habe unter persönlichen und familiären Problemen gelitten. „Es ist möglich, dass hier eine Eskalation eingetreten ist.“ Seine Schwester habe er mit fünf gezielten Revolverschüssen getötet, so der Oberstaatsanwalt.
Die Ausgabe vom 4. November beschäftigt sich erneut mit dem Motiv. „Ein Hakenkreuz hat der Täter auf die Tapete über seinem Bett gemalt. Ein Foto von Adolf Hitler hat er sich eingerahmt und an die Wand gehängt. CDs mit gewaltverherrlichenden Nazi-Songs stellt die Polizei sicher, eine selbstgemalte Reichskriegsflagge, außerdem Videospiele sowie Videokassetten.“ Dennoch lägen keine Informationen darüber vor, dass der Amokschütze einer rechtsextremen Gruppierung angehört haben könnte, sagt ein Polizeisprecher. „Es sei wohl eher eine Spinnerei von Jugendlichen.“
Inzwischen starten auch die Diskussionen um den Waffenbesitz. „Als Konsequerz aus dem Verbrechen sollten nach Ansicht Bayerns die Waffenbehörden künftig in jedem einzelnen Fall präzise festlegen, wie Waffen aufzubewahren sind, vom Stahlschrank bis hin zum Panzerwürfel.“ Auch die Deutsche Polizeigewerkschaft fordert eine schärfere Kontrolle von Waffenbesitzern. Günter Lamprecht steht weiterhin unter Schock und bekommt Beruhigungsmittel, seine Lebensgefährtin liegt im künstlichen Koma.
5. bis 8. November 1999
5. November: Der Amokschütze „hat bei seiner Tat an Allerheiligen mehr als 50 Mal geschossen.“ Dazu habe er vier Waffen aus der Sammlung seines Vaters benutzt. Die Eltern können aufgrund ihrer schlechten psychischen Verfassung nach wie vor nicht vernommen werden. Die Todesopfer wurden inzwischen zur Bestattung freigegeben. „Von einer öffentlichen Trauerfeier hat die Stadt Bad Reichenhall mittlerweile abgesehen, teilte Oberbürgermeister Wolfgang Heitmeier mit. Er sei der Auffassung, dass man den Hinterbliebenen einen erneuten Medienrummel ersparen solle.“ In der Wochenendausgabe (6./7. November) ist das Tatmotiv immer noch nicht klar, auch wenn inzwischen die Eltern vernommen werden konnten. „In einer Erklärung heißt es aber: ‚Es wurde keine strafrechtliche Verantwortlichkeit der Eltern im Hinblick auf das Geschehen festgestellt.‘ Sie hätten nach derzeitigem Erkenntnisstand keine Chance gehabt, die Ereignisse zu verhindern.“ Der Waffenschrank sei aufgebrochen worden.
Günter Lamprecht befindet sich am 8. November auf dem Weg der Besserung. Claudia Amm ist aus dem künstlichen Koma erwacht. „Die 54 Jahre alte Schauspielerin war von einer Kugel in den Bauch getroffen und lebensgefährlich verletzt worden. Tatort-Kommissar Lamprecht erlitt einen Armschuss.“ Bayern wolle aus dem Amoklauf politische Konsequenzen ziehen. „Der Freistaat werde seine Forderungen nach einem schärferen Waffenrecht und besserem Jugendschutz im Bundesrat wieder aufleben lassen, sagte Staatskanzlei-Chef Erwin Huber in München.“
Schwere Vorwürfe von Günter Lamprechts Managerin
Die Ausgabe des 9. November enthält einen ausführlichen Bericht darüber, wie der Schauspieler, seine Lebensgefährtin sowie sein Fahrer schwerverletzt aus dem Schussfeld geborgen wurden. Lamprechts Managerin erhebt dabei schwere Vorwürfe gegen die Polizei, nichts getan zu haben. Stattdessen drückt ein Sanitäter 23 Minuten nach den ersten Schüssen auf die Kupplung seines Rettungswagens, damit Helfer diesen in die Schusslinie – direkt vor die Verletzten – schieben können, die der Sanitäter schließlich erstversorgt. Die stark blutende Claudia Amm und der Fahrer werden zuerst geborgen. „Während einer Feuerpause - etwa eine halbe Stunde nach den ersten Schüssen - brachten Polizisten in schusssicheren Westen eine Trage für Günter Lamprecht.“ Der Polizeisprecher wehrt sich gegen die Vorwürfe, nicht schnell genug Hilfe geleistet zu haben. In solchen Fällen gebe es viele verschiedene Möglichkeiten zu reagieren. Polizei und SEK hätten genug gepanzerte Fahrzeuge, auch der Wagen von Stoiber und ein Panzer der Bundeswehr seien zur Verfügung gestanden. Es komme auch immer auf die Zeit und den Ort an.
Zudem wird am selben Tag berichtet, dass sich der Täter an Schießübungen beteiligt habe. Zusammen mit Freunden soll er im Kirchholz auf Bäume geschossen haben. Der Vater sagt aus, dass sein Sohn bis zur Tat lediglich mit Luftgewehren und -pistolen geschossen habe. Am Tatort legen währenddessen Trauernde Stofftiere ab und zünden Kerzen an.
Am 10. November berichtet die Zeitung über die Beerdigung des Schützen und seiner Schwester im engsten Familienkreis. Am 12. November ist klar, dass Günter Lamprecht vom Staranwalt Rolf Bossi vertreten wird. Der Vorwurf: Die Polizei habe seiner Ansicht nach den Verletzten zu spät geholfen. Für die zuständige Staatsanwaltschaft Traunstein liegen jedoch „keinerlei konkrete Anhaltspunkte für Versäumnisse der Polizei vor.“ Das Polizeipräsidium Oberbayern spricht vielmehr davon, „dass die Polizeibeamten und die Rettungskräfte zur Versorgung der Verletzten sogar ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt haben.“
Änderung der Waffengesetze erfolgt erst 2009
Zu Anklageerhebung gegen die Eltern, gegen die Bossi straf- und zivilrechtlich vorgehen will, kommt es übrigens nie. Auch der Beweggrund kann nicht zweifelsfrei geklärt werden. Darüber, warum die Polizei erst Stunden nach den Schüssen in das Haus stürmt, aus dem der Jugendliche geschossen hat, gibt es viele Spekulationen. So wird damals in der tz gemunkelt, dass man Angst hatte, der Lehrling könnte das Haus mit einer Bombe in die Luft sprengen. Erst der Amoklauf von Winnenden führt – zehn Jahre später – zu einer Änderung der Waffengesetze in Deutschland. Die Verletzung der Aufbewahrungspflicht ist seit dem 17. Juli 2009 keine Ordnungswidrigkeit mehr, sondern eine Straftat, die mit einer Geldstrafe oder einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren geahndet wird.
„Reichenhall blendet das Drama aus“, titelt das OVB in der Wochenendausgabe zu Allerheiligen 2009. „Zehn Jahre nach der Tat möchte im Ort kaum jemand an das schreckliche Geschehen erinnert werden. Dem damaligen Oberbürgermeister Wolfgang Heitmeier war nicht eine Silbe zu entlocken. Er verwies lediglich auf seinen Nachfolger Herbert Lackner. ‚Ich war in der Sache nicht involviert’, sagte der nur und beschwichtigte, ‚das ist kein Thema mehr.‘“
Keine Gedenkveranstaltung zum 25. Jahrestag
Zum 25. Jahrestag des Geschehens wird es von der Stadt aus keine Gedenkveranstaltung geben. Oberbürgermeister Christoph Lung erklärt auf Anfrage: „Die schreckliche Tat vom 1. November 1999 wurde seinerzeit als Amoktat aufgefasst und hat die örtliche Bevölkerung auch stark bewegt. Weil aber die Tat auf persönliche Motive eines Einzelgängers hindeutete, hat die Stadt Bad Reichenhall als Gebietskörperschaft damals keine Veranlassung gesehen, eine regelmäßig wiederkehrende Gedenkveranstaltung o.Ä. zu initiieren.“
Wesentlich anders habe sich die Lage bei der furchtbaren Katastrophe des Einsturzes der städtischen Eishalle vom 2. Januar 2006 dargestellt, so Lung weiter. „Hier wurde sowohl das Bedürfnis als auch die Notwendigkeit eines städtischen Gedenkens erkannt. Auch Gruppen oder Einzelpersonen, die ein Gedenken an den 1. November 1999 initiiert hätten, sind uns nicht bekannt. Gleichwohl bleibt dieses Datum bei vielen Reichenhallern und auch bei mir persönlich als Schreckenstag im Gedächtnis.“ (mf)




