Guter Start mit Baby
„Hilfe anzunehmen ist ein Zeichen von Stärke“ - Im Gespräch mit Mütterpflegerin Vroni Hilger
Für viele Frauen ist das Wochenbett mit großen Herausforderungen verbunden. Der Körper ist erschöpft, zugleich fordert einen das Baby rund um die Uhr. Mama muss funktionieren. Muss sie nicht, sagt Vroni Hilger aus Höslwang. Sie ist ausgebildete Mütterpflegerin, nur drei davon gibt es im Landkreis Rosenheim.
von Isabella Fiala
Ich erinnere mich an die Zeit nach der Geburt meiner Tochter. Die Kaiserschnittnarbe war noch nicht verheilt, das Stillen klappte nicht richtig, ich hatte extremen Schlafmangel und nach zwei Wochen musste mein Mann zurück in den Job. Kurz: die totale Überforderung. Ist das eine Situation, die du in deinem Job als Mütterpflegerin oft erlebst?
Es ist ganz normal, dass eine Frau nach der Geburt erschöpft ist. Eine Geburt ist ein einschneidendes Erlebnis. Der Körper braucht seine Zeit, sich von den Geburtsverletzungen zu erholen. Es heißt nicht umsonst Wochenbett. Also Wochen und Bett. In vielen Kulturen wird das Wochenbett sehr streng eingehalten, mindestens 40 Tage hat eine Frau dort Zeit, sich zu erholen und zu genesen.
Bei uns gilt oft die Frau als heldenhaft, die schon kurz nach der Geburt alles wieder mit links meistert.
Von der Vorstellung müssen wir endlich wegkommen. Das Wochenbett ist sehr wichtig, für die Frau, aber auch für das Baby. Beide brauchen Ruhe, was oft gar nicht so einfach ist, wenn die Frau keine Unterstützung hat. Wer soll den Haushalt schmeißen, wer soll sich um die Geschwisterkinder kümmern? Hier kommen wir als Mütterpflegerinnen zum Einsatz.
Was sind deine Aufgaben als Mütterpflegerin?
Die Tätigkeit einer Mütterpflegerin untergliedert sich grob in vier Punkte: Wir bieten Unterstützung bei der Säuglingspflege, im Alltag, bei der Haushaltsführung und der körperlichen Pflege. Das heißt, wir übernehmen die verschiedensten Dinge: kochen, versorgen das Baby, gehen Einkaufen, kümmern uns um die Geschwisterkinder und natürlich um die Mama. Je nachdem, was gerade anfällt. Unsere Arbeit geht weit über die einer klassischen Haushaltshilfe hinaus. Wir kümmern uns nicht nur um den Haushalt, eine Mütterpflegerin kennt sich zusätzlich aus in allen Belangen rund um Schwangerschaft, Wochenbett und das Einleben mit dem Baby.
Worin unterscheidet ihr euch von Hebammen?
Mütterpflegerinnen ersetzen keine Hebamme, das ist ganz wichtig. Im Gegensatz zu Hebammen führen wir keine medizinischen Behandlungen durch und stellen auch keine Diagnosen. Eine Mütterpflegerin ist ergänzend tätig. Außerdem verbringen wir in der Regel mehr Zeit in den Familien. Das können jeden Tag drei Stunden sein oder auch mehr. Je nach Bedarf und individueller Situation der Frau.
Vermutlich wünschen sich viele Frauen nach der Geburt eine Mütterpflegerin. Wer hat Anspruch darauf?
Wenn eine Frau wegen Beschwerden in der Schwangerschaft oder nach der Entbindung ihren Haushalt nicht alleine führen kann, weil der Partner tagsüber außer Haus ist oder die Frau alleinerziehend ist, kann sie eine Mütterpflegerin beantragen. Dafür muss ein medizinischer Befund vorliegen. Das können zum Beispiel ein gesenkter Gebärmutterhals, eine drohende Frühgeburt, ein Dammriss oder ein Kaiserschnitt sein. Die gesetzlichen Krankenkassen übernehmen dann die Kosten. Um die Beantragung sollte man sich möglichst früh kümmern, bei der Antragsstellung helfe ich gerne. (siehe Infokasten)
Mütterpflege beantragen - so geht's
Eine Mütterpflegerin kann bereits in der Schwangerschaft unter bestimmten Voraussetzungen bei der gesetzlichen Krankenkasse beantragt werden. Dafür ist eine ärztliche Verordnung/Bescheinigung notwendig. Die gesetzliche Grundlage für den Anspruch auf eine Mütterpflege bilden Paragraph 24, demzufolge Frauen bei Schwangerschaft und Entbindung eine Haushaltshilfe ohne Zuzahlung zusteht, sofern keine weitere Person im Haushalt helfen könnte, sowie Paragraph 38, demzufolge im Krankheitsfall Anspruch auf eine Haushaltshilfe besteht.
Viele Krankenkassen übernehmen die Kosten der Mütterpflegerinnen unter bestimmten Voraussetzungen. Bei Privatversicherten ist die Möglichkeit zur Beantragung abhängig davon, ob die Leistung einer „Haushaltshilfe“ im jeweiligen Tarif inbegriffen ist.
Weitere Infos unter www.muetterpflege-deutschland.de
Es gibt nur drei Mütterpflegerinnen im gesamten Landkreis Rosenheim. Besteht kein Bedarf?
Ganz im Gegenteil, der Bedarf ist sehr groß und im Vergleich zu früher deutlich gestiegen. Viele Frauen haben keine Mama in der Nähe, die ihnen während der Schwangerschaft oder nach der Entbindung hilft. Oder das Verhältnis zur eigenen Mutter ist nicht so gut, dass man Hilfe annehmen kann. Also sind viele Frauen auf sich alleine gestellt und das ist eine sehr große Herausforderung, die zur Überforderung führen kann.
Obwohl der Bedarf so groß ist, ist das Angebot sehr gering. Woran liegt das?
Das ist ein großer Missstand. Jede Mutter müsste nach der Geburt ein Recht auf Mütterpflege haben. Der Bedarf ist da, das kann jeder Arzt und jede Hebamme bestätigen. Mütterpflege ist kein „Nice to have“, Mütterpflege ist eine Notwendigkeit. Für jede Frau ist die Geburt und die Zeit danach eine enorme Herausforderung. Warum erwartet unsere Gesellschaft, dass eine Frau das alleine schafft?
Vermutlich, weil Mütter keine Lobby haben.
Stimmt. In Bayern ist die Lage besonders prekär. Hier gibt es nur etwa 20 Mütterpflegerinnen. Zum Vergleich: Hamburg hat allein für den Bezirk Nord fast doppelt so viele. Und alle Mütterpflegerinnen sind dort stets ausgebucht, der Bedarf ist riesig. Wir müssen den Beruf bekannter machen, damit wir die Nachfrage decken können. Wir alle wünschen uns mehr Kolleginnen.
Wie bist du zu dem Beruf gekommen?
Ich bin staatlich geprüfte Kinderpflegerin und studiere berufsbegleitend Soziale Arbeit. Am liebsten habe ich schon immer mit ganz kleinen Kindern gearbeitet. Als ich in meinem Studium vom Beruf der Mütterpflegerin erfahren habe, habe ich mich dazu berufsbegleitet in einem Jahr bei Dr. med. Gesine Weckmann an der Schule für Mütterpflege in Rostock ausbilden lassen.
738.819 Kinder kamen 2022 in Deutschland zur Welt. Das waren sieben Prozent Neugeborene weniger als im Jahr 2021 (Quelle: Statistisches Bundesamt)
1,33 Millionen alleinerziehende Mütter mit minderjährigen Kindern gab es 2022 in Deutschland. (Quelle: Statistisches Bundesamt)
Die Kaiserschnittrate in Deutschland lag 2023 bei 34,5 Prozent. Im Vorjahr waren es 32,8 Prozent. (Quelle: Kaufmännische Krankenkasse KKH)
Holland ist Deutschland weit voraus, hier ist der Beruf der Mütterpflegerin bereits etabliert. Jeder Frau steht nach der Entbindung eine Mütterpflege zu.
Ja, das ist dort ganz normal. Die Kraamhulp kommt jeden Tag für mehrere Stunden nach Hause, hilft bei der Säuglingspflege, kocht, putzt. Das ist eine enorme Entlastung für die Frauen. Ich wünsche, dass wir hier bald hinkommen und auch in Deutschland jeder Frau eine Mütterhilfe zusteht.
Wie kann das Ziel erreicht werden?
Indem wir als Mütterpflegerinnen sichtbar werden und netzwerken, Aufklärungsarbeit betreiben, unseren Beruf bekannter machen, und den Frauen sagen: Wenn ihr bestimmte Kriterien erfüllt, habt ihr ein Recht auf Mütterpflege. Ihr müsst das nicht alleine schaffen, ihr dürft euch von der Geburt erholen und Unterstützung holen. Dass man Hilfe annimmt, ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke.
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