Bayerns Landespolitik in Aufruhr
„Brandgefährlich für Demokratie“: Das Flugblatt, der Bruder - und viele Fragen an Aiwanger
Ein 35 Jahre altes antisemitisches Flugblatt wirbelt die Landespolitik durcheinander. Der Bruder von Hubert Aiwanger übernimmt die Verantwortung. Doch der Vorgang dürfte damit nicht beendet sein.
München – Fabian Mehring hat sich auch am Sonntagmittag noch nicht beruhigt. „Darf über Politiker – noch dazu kurz vor einer so wichtigen Wahl – in Medien wirklich derart haltlos und ungeschützt spekuliert werden, dass ein massiver Schaden für deren Ruf und Existenz droht?“, schimpft der Parlamentarische Geschäftsführer der Freien Wähler. Er sei „erschüttert“, der Vorgang sei „brandgefährlich für unsere Demokratie“. Es gehe um das Fehlverhalten des Bruders eines Spitzenpolitikers! „Daraus 35 Jahre später einen Skandal im Landtagswahlkampf zu konstruieren ist grotesk“, klagt Mehring. Beim eilig einberufenen Treffen des erweiterten Fraktionsvorstands der Freien Wähler am Samstag sei dies die einhellige Meinung gewesen.
Die Nerven liegen blank sechs Wochen vor der Wahl. Die Veröffentlichungen über Hubert Aiwangers Schulzeit in der Samstagsausgabe der „SZ“ wirbeln vieles durcheinander. Im Zentrum steht ein mit Schreibmaschine getipptes und mühsam vervielfältigtes Flugblatt, in dem vom „Vergnügungsviertel Auschwitz“ die Rede ist und ein „kostenloser Genickschuss“ als Preis ausgelobt wird (siehe rechts). Nicht nur Ministerpräsident Markus Söder sagt am Samstagvormittag: „Das Flugblatt ist menschenverachtend, geradezu eklig.“
Doch der Vorwurf, Hubert Aiwanger sei der Verfasser des Pamphlets, für das er im Schuljahr 1987/88 auch von der Schule mit einem Referat bestraft wurde, gerät im Laufe des Samstags ins Wanken. Am Abend nimmt Aiwangers älterer Bruder Helmut in der „Mediengruppe Bayern“ alle Schuld auf sich. Zur Begründung erklärt er: „Ich war damals total wütend, weil ich in der Schule durchgefallen bin und aus meinem Kameradenkreis herausgerissen wurde.“ Vom Inhalt distanziere er sich, betont Helmut Aiwanger, der heute einen Waffenladen im niederbayerischen Rottenburg betreibt. Er sei damals noch minderjährig gewesen.
Doch es war nicht Helmut, sondern Hubert Aiwanger, der für das Flugblatt bestraft wurde. Wohl nicht ganz zu Unrecht, schließlich soll er es auch selbst in Umlauf gebracht haben – Hubert Aiwanger selbst beruft sich auf Erinnerungslücken. Zeitzeugen von damals berichten unserer Zeitung, der Verdacht sei schnell auf den 16 oder 17 Jahre alten Hubert gekommen, weil der in der Klasse als Hitler-Imitator aufgefallen war. Vom Disziplinarausschuss zur Rede gestellt, habe Aiwanger „Rotz und Wasser geheult“, aber die Urheberschaft zunächst bestritten. Daraufhin durchsuchten die Lehrer seine Schulmappe und stießen dabei auf die Kopiervorlage. „Damit war er überführt“ (mit der Sache zumindest zu tun zu haben). Bruder Helmut kam damals offenbar gar nicht zur Sprache. Hubert aber wurde dazu verdonnert, ein Referat über das Dritte Reich zu halten. „Für mich war der Fall danach erledigt. Aber nach den jüngsten Äußerungen von Aiwanger (in Erding) fürchte ich, dass er nunmehr zu seinen Wurzeln zurückkehrt“, sagt ein Lehrer. Deshalb der Entschluss, die Öffentlichkeit zu informieren.
Hubert Aiwanger bezeichnet das Papier heute als „Hetzschrift“, die er nicht verfasst habe. „Bei mir als damals minderjährigen Schüler wurden ein oder wenige Exemplare in meiner Schultasche gefunden“, heißt es in einer Stellungnahme. Und: „Ob ich eine Erklärung abgegeben oder einzelne Exemplare weitergegeben habe, ist mir heute nicht mehr erinnerlich.“ Stellt sich die Frage, warum er nicht schon damals seinen Bruder als Urheber nannte: „Weder damals noch heute war und ist es meine Art, andere Menschen zu verpfeifen.“
So weit, so unübersichtlich stellt sich die Gemengelage zur heute beginnenden Briefwahl dar. Die Freien Wähler schimpfen vor allem über die „SZ“. Offenbar waren auch anderen Medien entsprechende Informationen zugespielt worden, sie entschieden sich aber gegen eine Veröffentlichung – unter anderem weil keiner der Zeitzeugen mit Namen auftritt. Doch ganz so haltlos, wie die Freien Wähler meinen, sind die Vorwürfe eben nicht. In der CSU-Spitze, wo man schon länger hadert (siehe unten), nennt man die Enthüllungen eine „echte Belastung für die Regierung“. Dass jetzt der Bruder die Verantwortung übernehme, halten viele für dubios und wenig glaubhaft. Das „stinke zum Himmel“.
CSU zwischen Verwunderung und Entsetzen
Auch in der CSU-Fraktion im Landtag schwankt man zwischen Verwunderung, Entsetzen und Verunsicherung. Viele Abgeordnete kennen Aiwanger seit Langem. Manche halten ihn für einen Populisten, der auch politische Projekte zerschießen könne, wenn es ihm nutze. Aber solche Inhalte habe man nicht mit ihm in Verbindung gebracht. Was das alles nun bedeutet, weiß keiner. Gerät der gesamte Wahlkampf nun in den Strudel dieser Geschichte? Kommt da vielleicht noch mehr? Und falls nicht, gibt es dann sogar einen Solidarisierungseffekt, von dem Aiwanger noch profitieren könnte? Das sind die Fragen, die sich CSU-Abgeordnete stellen.
Auch die Opposition hat Fragen. An Aiwanger. Auf Nachsicht und Verständnis darf er hier kaum zählen – selbst wenn der Vorgang 35 Jahre zurückliegt. Möglich wäre, dass das Thema in einer Sondersitzung des Landtags zur Aussprache kommt. Die SPD fordert eine Sondersitzung – trotz Sommerpause. „Wir haben dies mit Grünen und FDP besprochen“, sagt Fraktionschef Florian von Brunn. „Sie wollen noch abwarten, was Markus Söder zu Aiwangers Erklärungen sagt. Eine Sondersitzung bedarf der Zustimmung der Grünen, der FDP oder auch in diesem schwerwiegenden Fall der CSU.“
Grünen-Fraktionschef Ludwig Hartmann sieht noch zu viele offene Fragen und Erinnerungslücken. „Die müssen geklärt und geschlossen werden. Denn dieses Dokument ist menschenverachtend und verhöhnt die Opfer des Holocaust.“ Vor allem: „Warum hatte Hubert Aiwanger das Flugblatt denn in der Schultasche?“
Aiwanger macht derweil ganz normal weiter. Auf seinem Twitter-Kanal ist es am Wochenende zwar deutlich ruhiger als sonst. Die Termine aber stehen. Gestern beim Rinderzuchtverband Franken. Nächsten Montag spricht er auf dem „Gillamoos“ im niederbayerischen Abensberg. Schon am Sonntag ist er beim Keferloher Sonntag im Landkreis München. „Selbstverständlich“, bekräftigt der FW Kreisvorsitzende Otto Bußjäger. Die Schmutzkampagne gegen Aiwanger sei gescheitert.
