Analyse der EU
Energiewende in Gefahr? Studie nimmt Deutschlands Wasserstoff-Pläne auseinander
Eine neue Analyse der EU-Kommission hält die Elektrolyse von Wasserstoff in Deutschland auch langfristig für unwirtschaftlich. Europas Wasserstoff-Supermacht könnte ein anderes Land werden.
An gleich drei Grundüberzeugungen der künftigen Wasserstoffwelt rüttelt eine neue Analyse, welche die Generaldirektion Energie der EU-Kommission vor wenigen Tagen veröffentlichte.
- In einem perfekten Binnenmarkt läge die Kapazität der Elektrolyseure, die in Deutschland wirtschaftlich betrieben werden könnten, im Jahr 2050 bei null. Größter Produzent von grünem Wasserstoff wäre ausgerechnet Frankreich.
- Für die EU wäre es am kostengünstigsten, ihren Wasserstoffbedarf komplett selbst zu decken. Importe wären weder nötig noch wirtschaftlich.
- Würden Ammoniak, Ethylen und Eisenschwamm importiert und nur die weiteren Verarbeitungsschritte in der EU stattfinden, könnte der Wasserstoffbedarf um ein Drittel sinken – mit deutlichen Unterschieden für den Ausbau des Energiesystems.
Erstellt hat die Studie „The impact of industry transition on a CO₂-neutral European energy system“ das Fraunhofer ISI in Karlsruhe im Rahmen von METIS. Ergebnisse dieses Langzeitprojekts zieht die Kommission immer wieder für ihre energiepolitischen Entscheidungen heran.
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Null GW Elektrolyseure in der Bundesrepublik
Grundlage waren Annahmen aus einem Dekarbonisierungsszenario für die Industrie aus der EU-Initiative „Clean Planet for All“ aus dem Jahr 2018. Die Forscher modellierten nun den Energiebedarf für das produzierende Gewerbe und leiteten daraus die wirtschaftlichsten Ausbaupfade für die Strom- und Wasserstofferzeugung ab. Weil es sich um eine rein techno-ökonomische Analyse handelt, wurden keine politischen Restriktionen wie die Resilienz der Energieversorgung unterstellt. Trotzdem stellen die Ergebnisse so manche Überzeugung infrage, die in der Wasserstoff-Debatte bislang als gesichert galt.
„Die mitteleuropäischen Länder, darunter Deutschland, Belgien und die Niederlande, haben trotz ihres großen Wasserstoffbedarfs nur eine minimale oder gar keine Wasserstoffproduktion durch Elektrolyse“, heißt es in dem Bericht. Die Elektrolysekapazitäten in der Bundesrepublik sehen die Fraunhofer-Forscher 2050 bei „0 GW“. Dabei strebt die Bundesregierung in ihrer kürzlich aktualisierten Nationalen Wasserstoffstrategie schon bis 2030 zehn Gigawatt an.
Frankreich mit 130 GW Wasserstoff-Kapazitäten
Den Grund sieht der EU-Bericht in der Kostenstruktur einer Wasserstoffwirtschaft. Die Kosten für den Transport von H2 seien gegenüber der Produktion gering und benachbarte Länder hätten günstigere Bedingungen. Die führenden Wasserstoffproduzenten in Europa, gestaffelt nach ihren Elektrolyse-Kapazitäten in Gigawatt, wären im Jahr 2050:
- Frankreich (130 GW)
- Spanien (120 GW)
- Großbritannien (70-80 GW)
- Norwegen (70 GW)
- Dänemark (50-60 GW)
- Polen (50 GW)
- Finnland (20-70 GW)
„Frankreich hat viele gute Windstandorte“, begründet Fraunhofer-Studienleiter Tobias Fleiter den Spitzenplatz. Beim unterstellten Erneuerbaren-Ausbau in Frankreich zeigen sich aber auch die ersten Grenzen der Studie. Die Berechnungen ergeben für Frankreich 320 Gigawatt Photovoltaik und 300 Gigawatt Windenergie an Land. Die politischen Ziele der französischen Regierung für 2050 bleiben bisher aber deutlich dahinter zurück.
Erneuerbaren-Ziele von Macron deutlich geringer
In seiner Belfort-Rede im Februar vergangenen Jahres habe Staatspräsident Emmanuel Macron 100 Gigawatt Photovoltaik und 40 Gigawatt Offshore-Wind als Ziele gesetzt, erklärt das Deutsch-französische Büro für die Energiewende. Auch der jährliche Zubau an Onshore-Wind ist derzeit gering.
Gleichzeitig nimmt die Fraunhofer-Studie an, dass die Stromproduktion der französischen AKW von 360 Terawattstunden im Jahr 2021 auf 206 Terawattstunden zur Mitte des Jahrhunderts zurückgeht. Plausibel ist das nur, wenn man annimmt, dass alte Meiler weitaus schneller stillgelegt als neue errichtet werden. Bei höheren Anteilen von Atomstrom wären die Elektrolysekapazitäten wohl geringer, schätzt Fleiter.
Stockender Ausbau würde deutsche Produktion begünstigen
Ein leicht anderes Bild ergibt sich auch in einem Szenario, in dem nur 70 Prozent der europäischen Erneuerbaren-Potenziale ausgeschöpft werden. Dann mache Elektrolyse auch in Deutschland Sinn, sagt Co-Autor Khaled Al-Dabbas. Die Kapazitäten seien aber immer noch gering. Auch in einem unveröffentlichten Szenario mit geringeren Leitungskapazitäten gebe es eine höhere Wasserstoffproduktion in Deutschland. „Für Deutschland würde es aber auf jeden Fall die Kosten senken, die europäische Integration stärker mitzudenken“, resümiert Fleiter.
Entgegen vieler politischer Initiativen in Brüssel und Berlin halten die Forscher die Selbstversorgung mit Wasserstoff für Europa nicht nur für möglich, sondern sogar für günstiger als Importe. „Das war auch für die Kommission interessant“, verrät Fleiter. „Es zeigt, wie gewaltig und kostengünstig die Erneuerbaren-Potenziale in der EU noch sind.“
Europäische Selbstversorgung möglich
Ein leicht anderes Bild ergibt sich wieder bei einem um 30 Prozent vermindertem Erneuerbaren-Ausbau. Nötig wäre ein minimaler Import von 160 Terawattstunden Wasserstoff per Pipeline aus Marokko – angesichts einer Erzeugung von 3.000 Terawattstunden in Europa ein immer noch geringer Anteil.
Schiffstransporte von Wasserstoffderivaten und Grundprodukten für die Düngemittel-, Chemie- und Stahlindustrie könnten dennoch eine bedeutende Rolle spielen. Denn in einem weiteren Szenario hat das ISI berechnet, welche Folgen es hätte, wenn Ammoniak, Ethylen und Eisenschwamm nicht mehr in Europa hergestellt, sondern importiert würden. Wenn man nur diese drei Produkte ersetzt, würde der Wasserstoffbedarf um ein Drittel sinken. „Wir hätten fast ein anderes Energiesystem“, sagt Fleiter.
Viele Offshore-Windparks würden überflüssig
Zum einen wären die Importe von Wasserstoffderivaten gerade in Deutschland deutlich geringer. Überflüssig wären damit aber auch die meisten Offshore-Windparks. Die nötigen Kapazitäten würden sich um 60 Prozent verringern. Auch viele Solaranlagen auf Dächern würden rein ökonomisch gesehen nicht benötigt.
Viele Unternehmen aus den Grundstoffindustrien hätten aber noch unterschiedliche Präferenzen für die Dekarbonisierung, berichtet Fleiter: „Einige wollen grünen Methanol und Ammoniak importieren, andere lieber Wasserstoff.“ Je nach Strategie würden manche Fertigungsstufen in der EU verbleiben, andere nicht. Der Wasserstoffbedarf der Industrie sei eben noch sehr unsicher und nicht unbedingt eine No-regret-Maßnahme, wie oft angenommen.