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VCI

„Uns läuft die Zeit davon“: Chemieverband appelliert an Ampel - und fordert „Offensive 2030“

Die Konjunktur in Deutschland trübt sich weiter ein. Auch bei den Chemie-Unternehmen wächst die Vorsicht, warnt der Hauptgeschäftsführer des Branchenverbands VCI, Wolfgang Große Entrup, im Interview.

München - Deutschland ist zum Jahresauftakt in eine technische Rezession geschlittert. So nennen Volkswirte zwei Quartale mit schrumpfender Wirtschaftsleistung. Auch in der wichtigen Chemie-Industrie trübt sich die Lage weiter ein. Der Auftragsmangel mache den Unternehmen zunehmend zu schaffen, warnte der Hauptgeschäftsführer des Branchenverbands VCI, Wolfgang Große Entrup im Interview mit IPPEN.Media. Daher werde man „die Prognose aus dem Frühjahr revidieren.“

Zugleich mahnte Große Entrup bei der Ampel-Regierung eine umfassende wirtschaftspolitische Kurskorrektur an. Hohe Unternehmenssteuern, quälend lange Genehmigungsprozesse, Fachkräftemangel oder die ausufernde Bürokratie entwickelten sich für die Unternehmen zu einem „riesigen Klumpenrisiko. Das nervt alles.“ Nach der Agenda 2010 brauche Deutschland nun rasch eine „Offensive 2030“. Wenn die Bundesregierung und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) diese Herausforderungen jetzt nicht „konzentriert und sehr zügig“ angingen, werde die Lage in Deutschland „sehr schnell sehr düster“, warnte der VCI-Chef.

Herr Große Entrup, in Deutschland trübt sich das wirtschaftliche Umfeld weiter ein. Zum Jahresauftakt ist größte europäische Volkswirtschaft in eine technische Rezession gerutscht. Angesichts der Entwicklung erwarten die großen deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute inzwischen ein BIP-Minus für 2023. Wie ernst ist die Lage? 
Die Lage ist dramatisch. Dabei ist das ganze Ausmaß der Krise derzeit noch nicht einmal voll erkennbar, weil uns wegen des Arbeitskräftemangels und entsprechend moderater Arbeitslosenzahlen ein zentraler Krisenindikator der früheren Jahre fehlt. Aber die Industrie in Deutschland steht vor existentiellen Herausforderungen – und wir haben nicht das Gefühl, dass die flankierenden Maßnahmen der Politik auch nur ansatzweise ausreichen, um die Probleme in den Griff zu kriegen. 
Steht Deutschland vor dem Rückfall in die Rezession?
Die technische Rezession haben wir ja schon. Jetzt schlittern wir auch noch in eine mentale Rezession, weil immer mehr Unternehmerinnen und Unternehmer den Standort Deutschland nicht mehr für zukunftsfähig halten und sich auf breiter Front zurückhalten. Diese Sorge ist inzwischen mit Händen zu greifen.
Woran machen Sie das fest?
Die Skepsis erstreckt sich inzwischen auf völlig unterschiedliche Bereiche - ob das die grassierende Zurückhaltung bei Investitionen in Forschung und Entwicklung oder Produktionserweiterungen sind, oder immer tiefer sitzende Zweifel, dass die geplante Transformation von fossilen zu regenerativen Energiequellen in Deutschland gelingen kann. 
Wolfgang Große Entrup, Hauptgeschäftsführer des Verbands der Chemischen Industrie (VCI)
Wie groß ist die Sorge bei den Unternehmen denn konkret?
Die Sorge ist derzeit riesig. Ich nenne Ihnen mal ein Beispiel: Ich habe unlängst mit dem Chef eines bayerischen Unternehmens gesprochen, das seit über 100 Jahren fest im Freistaat verwurzelt ist. Die denken jetzt erstmals darüber nach, in Singapur und anderen asiatischen Standorten eine Dependance aufzumachen, weil sie mit Blick auf die Energiewende sagen: Ich kriege hier womöglich bald gar keinen Strom mehr, zum Beispiel, weil noch immer 12.000 Kilometer Strom-Leitungen in Deutschland fehlen und statt der von Olaf Scholz versprochenen vier bis fünf Windkraftanlagen pro Tag gerade mal eineinhalb am Tag fertig werden. Das sind alles Dinge, die zeigen: Wir müssen viel mehr Gas geben, damit Unternehmerinnen und Unternehmer wieder eine Zukunft sehen am Standort Deutschland – sonst kommt die Deindustrialisierung hier schneller als wir alle ahnen. 
Was bedeutet diese Entwicklung für die Chemieindustrie in Deutschland?
Die Chemieindustrie – ohne Pharma - hatte im ersten Quartal gegenüber dem vergleichbaren Vorjahreszeitraum ein Produktionsminus von knapp 20 Prozent zu verkraften. Das dürfte sich im Jahresverlauf kaum verbessern – im Gegenteil. Und Sie dürfen nicht vergessen: Die Entwicklung in unserer Branche ist ein klassischer Frühindikator, weil wir mit dem Großteil unserer Produkte am Beginn fast aller Wertschöpfungsketten stehen. Was sich also bei uns jetzt bemerkbar macht, wird sich mit entsprechender Verzögerung in praktisch allen anderen Branchen niederschlagen.
Der VCI hat im Mai nach einem schwachen Jahresauftakt gehofft, die Talsohle sei bereits durchschritten. War das womöglich ein bisschen voreilig?
Zum Jahresbeginn haben die meisten Wirtschaftsforschungsinstitute und viele Unternehmen an eine konjunkturelle Erholung im Jahresverlauf geglaubt, insbesondere auch in China. Doch wir sehen im deutschen Markt derzeit keinerlei Impulse, denken Sie nur an die anhaltende Konsum-Zurückhaltung bei den privaten Haushalten. Diese Risiken haben wir - ähnlich wie viele andere – unterschätzt.
Nun hat sich die wirtschaftliche Lage seit dem Frühjahr nicht verbessert – im Gegenteil: Die deutschen Exporte schwächeln. Der am Dienstag veröffentlichte ifo-Geschäftsklimaindex für die Chemie-Branche ist zuletzt deutlich eingebrochen. Auch die Konjunktur auf dem weltgrößten Chemiemarkt in China kommt nicht in Schwung. Der VCI erwartet für das laufende Jahr bislang ein Produktionsminus von acht Prozent. Ist diese Prognose angesichts des steigenden Gegenwinds überhaupt noch zu halten?
Wir werden die Zahlen zum ersten Halbjahr in zwei Wochen veröffentlichen. 
Aber die Lage ist gegenüber dem Frühjahr noch schwieriger geworden, egal, ob es um Exporte geht oder um andere Branchen wie die Automobil-Industrie, die ein wichtiger Kunde der Chemie-Branche ist. Da fällt es aktuell schwer, Zuversicht zu schöpfen, oder?
Die Chemie ist substantieller Bestandteil dieses depressiven industriellen Geleitzugs. Was bei uns passiert, hallt mit entsprechendem Zeitverzug auch in anderen Branchen nach.
Also wird es im zweiten Halbjahr eher schlechter als zuletzt erwartet?
Die Produktion unserer Branche insgesamt liegt im bisherigen Jahresverlauf auf sehr niedrigem Niveau. Von Januar bis April lagen wir bei minus zwölf Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Auch der Branchenumsatz ist seit Monaten rückläufig. Der Auftragsmangel macht den Unternehmen zunehmend zu schaffen. Klar ist: Wir werden die Prognose aus dem Frühjahr revidieren. Leider nicht zum Positiven. Zum Ausmaß kann ich aktuell noch nichts sagen, uns liegen noch nicht alle Zahlen vor.
Ein großer Hemmschuh für die Chemieindustrie sind die im internationalen Vergleich hohen Energiekosten. Um energieintensive Unternehmen zu entlasten, plant Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck einen stark vergünstigten Industriestrompreis. Haben Sie sich angesichts der geplanten Extra-Subvention von Herrn Habeck schon eine Flasche Sekt gegönnt?
Nein. Denn wir sehen am fernen Horizont bislang nur eine Möhre. Und der Weg bis zum Genuss ist noch weit. Bisher haben wir weder eine Einigung der Bundesregierung noch grünes Licht von der EU. Uns läuft die Zeit davon.
Aber die Einführung des Industriestrom-Preises ist unverzichtbar?
Absolut. Der Industriestrompreis ist ein Must-have. Denn verglichen mit anderen Ländern hatte Deutschland bereits vor der Corona-Krise international die mit Abstand höchsten Energiepreise. Dieser Rückstand ist mit dem Ukraine-Krieg noch größer geworden. Aber wir sind eine Exportnation. Einen solch massiven Wettbewerbsnachteil können wir auf Dauer nicht durchhalten. Deswegen ist es elementar, dass sich auch die Bundesregierung der Thematik stellt und die Industrie endlich entlastet. 
Die Pläne könnten den Steuerzahler laut Habeck insgesamt rund 25 bis 30 Milliarden Euro kosten. Andere Modelle sind sogar noch teuer. Warum sollte der Steuerzahler hier einspringen?
Der Industriestrom-Preis ist eine Investition in die Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland und bewahrt uns damit mittelfristig vor höheren Ausgaben in Arbeitslosigkeit und Strukturförderung. Das ist eine klare Win-win-Situation. Davon abgesehen: Wir haben es als Standort Deutschland geschafft, Herausforderungen wie die Finanzkrise oder Corona in Deutschland aufgrund unseres industriellen Kerns zu überstehen. Das unterscheidet uns signifikant von anderen Nationen, wie etwa England und Frankreich. Dieser industrielle Kern ist mit einer Wertschöpfungskette verbunden. Diese Struktur müssen wir erhalten. Wenn das nicht gelingt, werden in einem Dominoeffekt weitere Wertschöpfungsketten wegbrechen - mit allen volkswirtschaftlichen Konsequenzen. Ich kann nur jedem raten, mal nach England zu fahren und sich anzuschauen, was passiert, wenn dieser industrielle Kern verloren geht. 
Der Industriestrom-Preis ist unter Volkswirten aber ziemlich umstritten. Man könne wichtige Grundstoffe auch aus anderen Ländern zu günstigeren Konditionen importieren, sagen Ökonomen. Das lehnen Sie ab. Warum?
Weil ich nicht über ein Kurzzeitgedächtnis verfüge, sondern auf langfristige Industriepolitik setze. Wir haben in der Corona-Krise viel über Resilienz gelernt. Daher kann ich nur staunen, dass wir das jetzt alles über Bord schmeißen wollen und sagen: „Lasst uns abhängig von internationalen Zulieferern werden, die uns elementare Bestandteile für unseren Wirtschaftsstandort liefern sollen.“ Das ist Wahnsinn. 
Nun sehen Volkswirte wie die Wirtschaftsweise Veronika Grimm einen möglichen Industriestrom-Preis auch deshalb kritisch, weil sie befürchten, dass mit diesem Geld Unternehmen am Leben gehalten werden, die im internationalen Wettbewerb eigentlich keine Chance mehr haben. Damit werde der nötige Umbau der Wirtschaft nur verzögert - und zwar für sehr viel Geld. Was sagen Sie den Ökonomen?
Der Industriestandort Deutschland ist nur mit Schubidu nicht zu erhalten. Wir leisten substanzielle Beiträge zur wichtigen Transformation: Ohne Chemie, ohne Grundchemie, ohne energieintensive Industrien funktioniert kein Windrad, keine Batterie und keine moderne Mobilität. Natürlich können wir auf den kompletten tertiären Bereich setzen und versuchen, uns mit Banken, Versicherungen und ähnlichen Dienstleistungen über Wasser zu halten. Aber noch mal: Was Deutschland auszeichnet, ist der industrielle Kern samt hochprofitabler Wertschöpfungsketten. Wenn wir da mit der Kettensäge rangehen, wird das weitreichende Auswirkungen auf den Standort Deutschland haben. Das muss uns sehr bewusst sein – mit allen Konsequenzen.
Der Standort Deutschland verliert ja nicht nur wegen der hohen Energiepreise an Attraktivität. Die Unternehmenssteuern sind im internationalen Vergleich hoch, die Lohnnebenkosten liegen inzwischen klar über der Schallmauer von 40 Prozent, dazu wird der Fachkräftemangel immer größer und die Bürokratie wird zum Hemmschuh. Was nervt die Chemie-Unternehmen am meisten?
Die deutschen Unternehmen haben in den jüngsten Krisen eine enorme Widerstands- und Innovationskraft unter Beweis gestellt. Das zeigt: Wir können Krise. Doch im Moment macht sich in der Unternehmerschaft eine tiefe Frustration breit. Die Themen, die Sie gerade angesprochen haben, sind nicht mehr einzelne Herausforderungen. Das ist mittlerweile ein riesiges Klumpenrisiko. Das nervt alles.
Was muss passieren?
Wir brauchen einen klaren Plan, wie wir in Deutschland mit den Themen Energie, Infrastruktur, Arbeitskräfte, Genehmigungen oder Bürokratie umgehen wollen. Das ist die Bodenplatte für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands. Und das ist auch unser Appell an die Bundesregierung und Olaf Scholz: Gehen Sie diese Themen jetzt endlich konzertiert und sehr zügig an – sonst wird die Lage in Deutschland sehr schnell sehr düster. Ähnlich wie bei der „Agenda 2010“ brauchen wir jetzt eine „Offensive 2030“.
Was schwebt Ihnen bei der „Offensive 2030“ konkret vor? Wo muss die Ampel jetzt ran?
Wir brauchen ein amerikanisches Mindset des Machens und Ermöglichens und nicht das deutsch-europäische Erzwingen mit der Peitsche. Vernunft muss im Vordergrund stehen, nicht Ideologie. Sonst fahren wir nicht nur die Industrie, sondern die komplette Transformation zur Klimaneutralität an die Wand. Ich will Ihnen drei Punkte nennen, die wir für zwingend halten: eine sichere Energieversorgung und wettbewerbsfähige Preise für Strom und Gas. Eine Entfesselung vom Bürokratiewahnsinn, der unseren Unternehmen die Luft zum Atmen nimmt. Das schließt einen Turbo für Genehmigungsverfahren ein, die bisher jahrelang dauern. Und Deutschland muss attraktiver werden für in- und ausländische Fach- und Arbeitskräfte.
Wirtschaftsminister Robert Habeck bereitet den Industrie-Strompreis vor. Gleichzeit will die Ampel aber den Spitzenausgleich für energieintensive Unternehmen im Volumen von 1,7 Milliarden Euro ab 2024 streichen. Wie passt das zusammen?
Das wüssten wir auch gerne. Wir haben auf der einen Seite die Möhre Industriestrompreis. Gleichzeitig soll aber der Spitzenausgleich gestrichen werden. Das macht uns fassungslos. Denn im Prinzip wirkt das für die gut 9000 energieintensiven Industrie-Unternehmen wie eine satte Steuererhöhung und zwar mitten in der Wirtschaftskrise. Das versteht kein Mensch und raubt vielen Unternehmen die letzte Hoffnung, dass am Standort Deutschland doch noch die richtigen Prioritäten gesetzt werden könnten.
Man könnte die Streichungen auch als Hinweis deuten, dass Finanzminister Christian Lindner fest von der Einführung des Industrie-Strompreises ab 2024 ausgeht?
Würden Sie mit dieser Hoffnung eine Erweiterung Ihrer Industriebetriebe vornehmen? Ich nicht.
Während Deutschland ins Hintertreffen gerät, gewinnt die US-Wirtschaft derzeit rapide an Attraktivität. Alleine im Vorjahr hat das Land neue Fabriken für rund 190 Milliarden Dollar gebaut. In einzelnen Bundesstaaten kommen rund drei Viertel der Investitionen aus dem Ausland. Was plant die Chemie-Industrie? Kommt jetzt die große Abwanderung?
Die USA haben mit dem Inflation Reduction Act (IRA) und den entsprechenden Investitionshilfen ein herausragendes Instrument zur Wirtschaftsförderung. Das wird von den US-Bundesstaaten auch noch mit günstigen und langfristigen Energiepreisen flankiert. Das sind extrem attraktive Rahmenbedingungen. Insbesondere börsennotierte Unternehmen schauen sich das sehr genau an – auch in Deutschland. Wahr ist aber auch: Unser Problem ist nicht das Geld. Das haben wir in Europa auch. Nur kommen die Unternehmen nicht dran. Es gibt gigantische europäische Investitions- und Förderprojekte, bei denen selbst internationale Unternehmen über zwei bis drei Jahre versuchen, finanzielle Unterstützung zu erhalten, vielfach aber vergeblich. Diesen Bürokratie-Wahnsinn müssen wir endlich beenden. Das gilt auch für Deutschland. Der Doppelwumms des Bundeskanzlers ist von unserer Industrie nicht genutzt worden – weil die Hürden viel zu hoch waren.

Derweil kämpft VW in China verzweifelt um Marktanteile und kappt den Preis für das wichtigste E-Auto.

Rubriklistenbild: © Martin Schroeder/Imago

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