Studie des Pestel-Instituts
Sozialer Wohnungsbau für behinderte Menschen in tiefer Krise – „Situation ist fatal“
Menschen mit Behinderung sind die „einzig sicher wachsende Bevölkerungsgruppe“. Trotzdem fehlt es an Wohnraum. Das Verbändebündnis Soziales Wohnen nimmt die Politik in die Pflicht.
Berlin – „Wir haben die größte Wohnungskrise seit 30 Jahren“ – mit drastischen Worten fasste Janina Bessenich, Geschäftsführerin Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie, den deutschen Wohnungsbau zusammen. Bei einer extra angesetzten Pressekonferenz zur neuen Wohnungsbau-Studie des Pestel-Instituts stand für sie der Wohnungsbau für Menschen mit Behinderung im Vordergrund. Hier liege gar eine Diskriminierung vor.
| Menschen mit Anspruch auf Sozialwohnungen (Pestel-Institut) | 15 Millionen |
| Sozialwohnungen bundesweit | 1,1 Millionen |
| Schwerbehinderte über 75 | 2,6 Millionen |
| Gefordertes Budget für den Bau von Sozialwohnungen | 50 Milliarden Euro |
Zehn Prozent aller Sozialwohnungen für körperlich Behinderte
Die Forderung vonseiten des Bündnisses ist deutlich: Zehn Prozent aller neu gebauten Sozialwohnungen in Deutschland müssten behindertengerecht erbaut werden. Das sei vor allem darum wichtig, weil Senioren und Menschen mit Behinderung die „einzig sicher wachsende“ Altersgruppe seien. Entsprechende Anforderungen an die Wohnung müssten „voll refinanziert“ werden. „Klein und barrierefrei“ müssten die Wohnungen sein.
Wer den Zuschlag für die Vergabe von Sozialwohnungen erhält, sollte künftig eine von Gemeinde- oder Stadträten eingerichtete Härtefallkommission entscheiden. Diese Maßnahme soll nach Ansicht des Bündnisses der Erhaltung von Vielfalt und Diversität sicherstellen – und Verdrängungsprozesse dämpfen.
„Situation ist fatal“ – 15 Millionen Menschen haben Anspruch auf Sozialwohnung
Bessenich zufolge sind Menschen mit Behinderung und andere benachteiligte Bevölkerungsgruppen vom Wohnungsmarkt so gut wie ausgeschlossen. Mehr als acht Millionen Deutsche leben aktuell mit einer schweren Behinderung. Gleichzeitig gibt es weniger als 1,1 Millionen Sozialwohnungen bundesweit. Auf dem Papier hätten „weit über 15 Millionen Menschen“ Anspruch auf eine Sozialwohnung.
„Deutschland verletzt Artikel 19 der UN-Behindertenrechtskonvention“, erklärte die Caritas-Geschäftsführerin. Durch den Mangel an barrierefreiem und bezahlbarem Wohnraum würden Menschen mit Behinderung strukturell benachteiligt. Vom Aufbau einer selbstständigen Existenz in der eigenen Wohnung sei für viele gar nicht zu denken: 200.000 Menschen mit Behinderung würden in Einrichtungen der Eingliederungshilfe leben. Und weiter: „Die Situation ist fatal.“
Schwere Behinderungen oft durch Krankheiten ausgelöst
Damit nicht genug: Die Situation soll sich langfristig verschärfen. „Je älter die Menschen werden, umso höher ist der Bedarf an Pflege“, sagte der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen dazu. Zahlen des Statistischen Bundesamts (Destatis) untermauern das: Etwa ein Drittel (2,6 Millionen) der schwerbehinderten Menschen haben das 75. Lebensjahr überschritten (Stand 2022).
„Behinderungen bestehen vergleichsweise selten seit der Geburt, sondern entstehen meist erst im fortgeschrittenen Alter“, teilte die Wiesbadener Behörde dazu mit. Neun von zehn schweren Behinderungen resultieren aus einer Krankheit. Weil die deutsche Bevölkerung derzeit altert, sei mit einer Tendenz zu mehr Menschen mit Behinderung zu rechnen.
Aktuell verteilen die Bundesländer verschiedene Hilfeleistungen, wenn ein behindertengerechter Umbau ansteht. Laut dem Zentrum Bayern Familie und Soziales (ZBFS) zum Beispiel können Menschen mit Behinderung einen zinsfreien Kredit über 10.000 Euro aufnehmen, außerdem besteht die Möglichkeit, einen Freibetrag von 4.000 Euro vom Jahreseinkommen abzuziehen – für jeden Haushaltsangehörigen, der einen Behinderungsgrad von 50 und mehr hat. Für diese Förderungen sind jeweils die Landratsämter und die kreisfreien Städte zuständig.
Vermieter profitieren von Verlusten des Staats
Das Bündnis „Soziales Wohnen“ sieht das Bauen von neuen Sozialwohnungen als einzige Lösung, um mit dem Wohnungsmangel fertig zu werden. Der Staat habe jahrelang „Missmanagement“ betrieben und viel zu hohe Mieten gezahlt, anstatt für echten Wohnraum zu sorgen. „Um bedürftigen Haushalten das Wohnen überhaupt noch zu ermöglichen, ist der Staat gezwungen, stetig steigende Mieten auf dem freien Wohnungsmarkt zu akzeptieren“, kritisierte Studienleiter Matthias Günther vom Pestel-Institut. „Am Ende profitieren davon vor allem die Vermieter.“
Das Bündnis fordert die Einrichtung eines Sonderbudgets für den Bau von Sozialwohnungen. Dieses soll 50 Milliarden Euro schwer sein. Die Bundesbauministerin Geywitz (SPD) will davon nichts wissen. Sie gab im Fernsehen an, die vorgestellten Zahlen seien erfunden. Auf Anfrage, inwiefern barrierefreie Wohnungen in den Plänen der Regierung vorgesehen seien, hatte das zuständige BMWSB noch nicht geantwortet.
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