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Analyse 

Knapp 200 000 Azubi-Stellen unbesetzt, aber 80 000 Schulabgänger unversorgt – wie kann das sein?

BA-Chefin Andrea Nahles bei der Auftaktveranstaltung der Thementage Qualifizierung in der Transformation
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BA-Chefin Andrea Nahles bei der Auftaktveranstaltung der Thementage Qualifizierung in der Transformation (Symbolbild).

Wer nicht schon im August in eine duale Ausbildung gestartet ist, für den beginnt heute das neue Ausbildungsjahr.

Mitte August waren 177.400 Lehrstellen unbesetzt – und gleichzeitig 76.300 Bewerberinnen und Bewerber unversorgt. Das ist zumindest im monatlichen Bericht der Bundesagentur für Arbeit (BA) zu lesen. Katastrophenstimmung ist bei der Pressekonferenz der BA trotzdem nicht zu spüren. Denn, so der Tenor, die Lage hat sich im Vergleich zum Vorjahr immerhin nicht weiter verschlechtert. Die Zahl der gemeldeten Bewerber stagniert. Bei den Ausbildungsstellen gab es sogar einen ganz leichten Anstieg um 0,4 Prozent. Ist das sogar ein kleiner, bescheidener Erfolg?

„Wir würden sagen, dass wir eine Stabilisierung sehen, denn es gab keinen Rückgang der Bewerberzahlen wie im vergangenen Jahr“, sagte BA-Chefin Andrea Nahles bei der Präsentation der Daten zum Ausbildungsmarkt. Der Eintritt in eine Ausbildung habe sich sogar leicht verbessert. Außerdem sei sie optimistisch, dass ihre Behörde jetzt noch viele Leute in einer Nachvermittlungsaktion in Ausbildung bringt, wie schon in den Jahren zuvor.

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Nahles: Jugendliche müssen Berufswahlspektrum weiten

Was Nahles nicht ausspricht: Vom Einbruch in der Pandemie hat sich der Ausbildungsmarkt immer noch nicht erholt. Damals, im Sommer 2020, sprach die Bundesagentur von einem „coronabedingten Rückstand“. Seitdem hat sich die Lage zwar wieder etwas erholt. Aber von der Situation in 2019 ist Deutschland noch weit entfernt. Je länger die Zahlen stagnieren, desto mehr festigt sich die Gewissheit: Allein an der Pandemie kann es nicht mehr liegen.

„Die Mismatch-Probleme sind nicht zu übersehen“, sagt Andrea Nahles daher auch. „Wir bringen oft nicht die offenen Ausbildungsstellen mit den Bewerberinnen und Bewerbern zusammen.“ Als Gründe führt sie an, dass Bewerber nicht immer in den Regionen sind, in denen es offene Stellen gibt. Auf der anderen Seite nähmen Betriebe Bewerber aufgrund von „Qualifikationsdefiziten“ nicht auf. Der Appell der BA-Chefin lautet: Betriebe sollten auch Kandidaten aufnehmen, „die vielleicht nicht idealtypische Voraussetzungen“ haben; und die jungen Leute sollten „ihr Berufswahlspektrum in diesen Wochen nochmal erweitern“. Oft würden sie sich nämlich auf eine sehr kleine Anzahl an Berufen festlegen.

Regional große Unterschiede

Bleibt zu fragen, ob Betrieben damit geholfen ist, wenn junge Menschen sie mangels Alternative wählen. Schon 2021, das ist das aktuellste Jahr der Erhebung des Bundesinstituts für Berufsbildung, wurde ein Viertel der Ausbildungsverträge vorzeitig gelöst. Viele Azubis wechseln nur den Betrieb, aber rund 13 Prozent brechen laut Schätzung der Deutschen Industrie- und Handelskammer tatsächlich ab.

Und: Ein allgemeines Patentrezept, wie Nahles es präsentiert, kann es eigentlich nicht geben. Denn regional stellt sich die Situation sehr unterschiedlich dar. Auf Ebene der Bundesländer sticht allein Berlin mit mehr Bewerbern als gemeldeten betrieblichen Ausbildungsstellen hervor – während das Bundesland gleichzeitig neben Bayern, Baden-Württemberg und Brandenburg den höchsten Anteil unbesetzter Ausbildungsstellen hat.

Auf Ebene der Agenturbezirke sind die Unterschiede noch signifikanter:

  • In jedem neunten Agenturbezirk (und damit insgesamt 17) gibt es deutlich mehr Bewerber als Ausbildungsstellen. Besonders schlechte Aussichten haben junge Menschen in Offenbach, Recklinghausen, Berlin-Mitte, Berlin-Süd, Gelsenkirchen, Pirna, Eberswalde.
  • In jedem fünften Bezirk (insgesamt 33) sind die Bewerber-Stellen-Meldungen relativ ausgeglichen.
  • In zwei von drei Bezirken gibt es laut BA deutlich weniger Bewerber als betriebliche Ausbildungsstellen.

Auch bei den Branchen gibt es große Unterschiede: 

  • Deutlich mehr Ausbildungsstellen als Bewerber verzeichnet die BA in der Lebensmittelindustrie, Hotellerie und Gastronomie, in Bauberufen oder in Metall- und Elektroberufen.
  • Zu viele Bewerber gibt es dahingegen auf Ausbildungen in der Softwareentwicklung, der Tischlerei, in Kfz-Technik und -Verkauf oder im Gartenbau.

Gewerkschaften fordern Großunternehmen, mehr auszubilden

Der Deutsche Gewerkschaftsbund, der gestern seinen Ausbildungsreport vorstellte (zum Download), sieht einen Grund für die Krise am Ausbildungsmarkt in Missständen in einzelnen Branchen. Die repräsentative Umfrage unter knapp 10.000 Azubis ergab unter anderem, dass immer weniger Azubis (17 Prozent) ihren Ausbildungsbetrieb weiterempfehlen würden. Sieben von zehn Azubis sind mit ihrer Ausbildung zufrieden oder sogar sehr zufrieden. Allerdings ist der Wert im Vergleich zum Vorjahr so stark gesunken wie noch nie (um knapp 3 Prozent).

Unterhalb des Durchschnitts liegt die Zufriedenheit im Hotelgewerbe (54 Prozent), im Einzelhandel (60 Prozent) und in Teilen des Handwerks (64 Prozent bei Tischlern). „Dass gerade diese Branchen Schwierigkeiten haben, ihre Ausbildungsplätze zu vergeben, wundert uns nicht“, sagte DGB-Bundesjugendsekretär Kristof Becker.

Die stellvertretende DGB-Vorsitzende, Elke Hannack, forderte, dass insbesondere große Ausbildungsbetriebe mehr ausbilden müssten, auch über den eigenen Bedarf hinaus. Selbst einige Dax-Unternehmen deckten nicht mal mehr ihren eigenen Bedarf. Aber insbesondere kleine und mittlere Unternehmen finden immer schwerer Azubis. In das gleiche Horn stößt die „Gewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie“ (IG BCE): Sie fordert, dass Großunternehmen wieder mehr über den eigenen Bedarf ausbilden und keine „Elitenauslese„ betreiben. Mit ihrer Kampagne „Fachkräfte fallen nicht vom Himmel – ohne Ausbildung keine Zukunft“ will die IG BCE über die Betriebsräte erreichen, dass möglichst viele Betriebsvereinbarungen für mehr Lehrstellen geschlossen werden.

Es braucht bessere Daten

Wo das Problem nun eher liegt – ob bei zu wählerischen jungen Menschen oder bei ausbildungsfaulen Unternehmen – kann die BA-Statistik indes nur unzureichend beantworten. Sowohl das Lehrstellenangebot als auch die Zahl der Bewerber ist nämlich chronisch untererfasst. Die Bundesagentur ist davon abhängig, dass Ausbildungsinteressierte und Betriebe sie überhaupt informieren. Jan Krüger, Ausbildungsexperte der DGB, betont, die Zahlen seien in erster Linie eine „Geschäftsstatistik der Arbeitsagenturen und Jobcenter“, die mehr über deren Vermittlungstätigkeit als über die Lage am Ausbildungsmarkt aussagen. Er kritisiert zudem, dass die Kategorisierung der BA zu einer Unterschätzung der Zahl derjenigen führt, die bei der Ausbildungsplatzsuche leer ausgehen.

Die Bundesagentur selbst schreibt in ihrem Monatsbericht, der rückläufige Trend der Bewerberzahlen hänge „mit der zunehmenden Digitalisierung und einer dadurch verbesserten Transparenz über die vorhandenen Ausbildungsangebote zusammen“. Immer mehr Unternehmen böten ihre Ausbildungsstellen über Ausbildungsbörsen oder die eigene Internetpräsenz an. Und: „Bei wachsendem Angebotsüberhang, wie er aktuell zu beobachten ist, nutzen Ausbildungsbetriebe die Ausbildungsvermittlung in der Regel früher und häufiger, die jungen Menschen jedoch später und seltener.“

Auf Anfrage von Bildung.Table bezeichnet eine BA-Sprecherin die Daten dennoch als repräsentativ. Die Behörde könne das nicht durch eine belastbare Statistik belegen, aber „anhand verschiedener Datengrundlagen“ gut schätzen.

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