Streit um Atomausstieg
„Wäre sehr bedenklich“: Wirtschaftsweise zeigt sich erschüttert nach Habeck-Enthüllungen
Habecks Ministerium soll interne Kritik am Atomausstieg nicht gehört haben. Wirtschaftsweise Grimm hält das für „sehr bedenklich“. Ein anderer Fachmann spricht von „Ablenkung“.
Berlin – Der Atomausstieg polarisiert, mitten in der Energiekrise Anfang 2022 jedoch umso mehr. Dementsprechend sorgt der Cicero-Bericht über die geheimen Akten im Bundeswirtschaftsministerium zum Atomausstieg für Aufsehen. Fachleute sollen „kaum Gehör“ gefunden haben, ihre Einschätzungen seien „ignoriert oder verfälscht“ worden, lautet der Vorwurf.
Wirtschaftsweise Veronika Grimm zeigte sich von dem Bericht erschüttert. „Wenn die Expertise der Fachleute im Wirtschaftsministerium tatsächlich nicht zu Robert Habeck durchgedrungen ist, dann wäre das sehr bedenklich“, sagte die Wirtschaftswissenschaftlerin dem Focus.
„Muss sich den Argumenten stellen“: Wirtschaftsweise zeigt sich von AKW-Enthüllungen im Habeck-Ministerium bestürzt
Der Bundeswirtschaftsminister müsse ja nicht allein nach ökonomischen Kriterien entscheiden, erklärte Grimm. „Aber wie soll er denn abwägen, wenn wichtige Informationen gar nicht bei ihm ankommen?“ Es sei wichtig, sich Expertise aus mehreren Quellen einzuholen, nicht nur von Parteianhängern.
„Man muss sich zumindest intern den Argumenten stellen und darf sich ihnen nicht verweigern“, sagte die Wirtschaftsweise dem Magazin. „Dann hätte Habeck sich auch ehrlich machen und mit Verweis auf eine politische Entscheidung agieren können.“ In der Debatte um den Atomausstieg berücksichtigt werden müsse, dass durch einen Weiterbetrieb der „günstigen Atomkraftwerke“ die Preise fallen würden.
Nach AKW-Enthüllungen: Weiterbetrieb der Atomkraft hätte Strompreis gesenkt – laut Energieexperten
„Die ans Tageslicht gelangten Informationen bekräftigen meine Überzeugung, dass der Ausstieg aus der Kernenergie im April 2023 sowohl für die Zuverlässigkeit, als auch für Bezahlbarkeit und Umweltfreundlichkeit der deutschen Stromversorgung schädlich war“, erklärte dazu André Thess, Professor für Energiespeicherung an der Universität Stuttgart, auf IPPEN.MEDIA-Anfrage. Thess plädiert schon länger für einen Weiterbetrieb der Kernkraftwerke.
Auch Energieexperte Marco Wünsch vom Beratungsunternehmen Prognos geht davon aus, dass eine Verlängerung der drei Atomkraft-Blöcke den Börsenpreis für Strom in jedem Fall gesenkt hätte. Der Effekt wäre jedoch wegen der sinkenden Preise für Kohle und Gas kleiner gewesen. Der Großhandelspreis für Strom läge heute nur drei Euro pro Megawattstunde niedriger, bei Haushalten wären es lediglich 1,5 Prozent weniger. Ab dem Frühjahr 2023 habe sich die Lage an den Gasmärkten entspannt und die extrem hohen Preise seien zurückgegangen.
Wünsch verwies jedoch darauf, dass 2022 zu Beginn der Energiekrise alle unsicher gewesen seien, wie gut man durch das Jahr kommen würde. „Es war unklar, wie viel Gas man einsparen kann und was technisch möglich ist. Man hat dann alles getan, um durch den Winter zu kommen, also zum Beispiel die Kohlekraftwerke reaktiviert und drei Atomkraftwerke am Netz gelassen“, sagte der Wirtschaftsingenieur.
„Kein Skandal“: Energieexperte sieht keine außergewöhnlichen Vorgänge im Habeck-Ministerium
Nach den Enthüllungen über die mutmaßlich zurückgehaltenen Informationen zum Atomausstieg sieht Wünsch keine außergewöhnlichen Vorgänge. Es sei normal, dass es in Ministerien mit 2000 Mitarbeitern und 200 Referaten unterschiedliche Einschätzungen zu solch großen Themen wie dem Atomausstieg gebe.
„Es ist kein Skandal, dass bestimmte Referate zu anderen Schlüssen kommen als es die große Linie des Hauses ist“, zitiert der Focus den Energieexperten. Die Politik treffe deshalb die Entscheidung und „keine Technokratie“.
Experte hält Aufruhr um AKW-Enthüllungen für Ablenkung von „wichtigen energie- und klimapolitischen“ Fragen
„Ich wundere mich, warum über die Frage des Weiterleitens von Informationen zum Atomausstieg derzeit so ein Bohei gemacht wird“, erklärte Volker Quaschning, Professor für regenerative Energien an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin, gegenüber IPPEN.MEDIA. Es habe zahlreiche Wissenschaftler gegeben, „die einen Weiterbetrieb der Kernenergie über den Jahreswechsel 2022/23 hinaus sowohl aus Gründen der Versorgungssicherheit als auch zur Stabilisierung der Energiepreise als unnötig angesehen haben“. Die tatsächliche Entwicklung habe ihnen recht gegeben.
Quaschning kritisiert zudem Forderungen nach einer Reaktivierung von Kernkraftwerken. Die Debatte diene als Ablenkung von wichtigen energie- und klimapolitischen Fragestellungen, auf die gewisse Kreise keine Antwort hätten „und auch gar keine Antwort finden wollen“.
„Es wird sich ohne staatliche Subventionen in exorbitanter Höhe kein Betreiber für die Kernkraftwerke finden, der das erhebliche finanzielle Risiko auf sich nehmen würde“, erklärte der Experte. Durch den starken Ausbau der Solar- und Windenergie sei der Weiterbetrieb technisch sinnlos, da Grundlastkraftwerke zum Ausgleich der „immer stärkeren fluktuierenden Erzeugung ungeeignet seien“.
Robert Habeck widerspricht Cicero: Wirtschaftsministerium habe Atomausstieg „ergebnisoffen“ diskutiert
Das Bundeswirtschaftsministerium widerspricht zudem der Darstellung des Cicero. Robert Habeck selbst erklärte am Freitag, 26. April, in einer kurzfristig angesetzten Sitzung des Ausschusses für Klimaschutz und Energie, sein Haus habe immer alle Optionen geprüft, die vorliegenden Informationen seien ständig auf alle sich ändernden Umstände hin überprüft worden. „Es ist unwahr, dass Vermerke ins Gegenteil verkehrt werden“, sagte der Wirtschaftsminister zudem.
Es sei „ausdrücklich“ sein Wunsch, alle Varianten zu prüfen. Er habe seinem Haus kein Diskussionsverbot gegeben, sagte Habeck in der Sondersitzung. „Die Akten erzählen, wenn man sie genau und unparteilich prüft, dass ergebnisoffen diskutiert wurde“, erklärte der Grünen-Politiker. Er verwies darauf, dass die AKW-Betreiber Eon, RWE und EnBW einen Weiterbetrieb zum damaligen Zeitpunkt nicht für umsetzbar hielten. Erst später sei von Eon die Information gekommen, dass die Atomkraftwerke doch länger laufen könnten. (ms)
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