„Vision 2030“
Katar krönt sich mit der Fußball-WM - doch wohin führt der Weg des Wüstenstaates?
Seit Jahrzehnten vergrößert Katar seinen weltweiten Einfluss, die Fußball-WM ist ein Meilenstein für das kleine Land. Doch die Kritik aus der freien Welt besteht weiterhin. Wohin führt der Weg des Wüstenstaates?
Doha – Das Fernsehprogramm dieser Tage ist voll mit Reportagen aus Katar, und immer wieder treten in den Interviews junge Frauen auf. Selbstbewusst und souverän gehen sie mit der Präsenz von Kameras um, ihr Englisch ist perfekt, ihr Ausdruck gewählt, ihre Argumentation durchdacht. Man denkt in diesen Momenten an Sheikha Moza, die Ehefrau des damaligen Emirs von Katar, und wie erhaben sie sich freute, als am 2. Dezember 2010 in Zürich FIFA-Präsident Joseph Blatter Katar als Ausrichter der Fußball-WM verkündete. Von da an nahm man sie als Stilikone der arabischen Welt wahr, der die besten Designer elegante Kreationen auf den Leib schneiderten, für die jeder Staatsempfang zum Laufsteg wurde und die dabei stets letzte Geheimnisse wahrte: Das Haar trug sie nie offen, zeigte keinen Ausschnitt.
Offene und gleichzeitig verschlossene Gesellschaft
Zu lesen ist über Sheikha Moza, heute 63 Jahre alt, dass sie viel bewirkte für die Mädchen und Frauen in ihrem Land. Sie schuf freien Zugang zu Bildung, sie ließ einen eigenen Stadtteil errichten, „Education City“, in dem Universitäten aus Amerika und Frankreich Dependancen errichteten. Es gibt mehr Studentinnen in Katar als Studenten. Das Land muss fortschrittlich sein. Doch dann gerät man in eine Gesprächsrunde von Amnesty International mit Rothna Begum, der Expertin für Frauenrechte im Nahen Osten und in Nordafrika bei Human Rights Watch, und sie erzählt eine differenziertere Geschichte: „Frauen haben in Katar viele Barrieren durchbrochen, sind Unternehmerinnen, Rechtsanwältinnen, Ärztinnen“, bestätigt sie. „Aber für die Heirat, um arbeiten oder ins Ausland reisen zu dürfen, brauchen sie eine ,male guardian permission‘.“ Heißt: Ein männliches Mitglied der Familie muss eine Absicht absegnen. „Auch bei Frauen über 25 kann der Ehemann eine Reise ins Ausland verbieten“, ergänzt sie. Wenn man das hört, ist man wieder bei den Reportage-Bildern, wie die Männer zusammensitzen und bis auf die Angestellten keine weibliche Person zu sehen ist.
Die für Frauen offene und zugleich dann doch verschlossene Gesellschaft – es ist einer von vielen Widersprüchen um das Land, auf das die Welt mindestens bis zum großen Fußballfinale am 18. Dezember blicken wird. Vielleicht ist überhaupt kein Staat widersprüchlicher als dieses Katar. Nur über seine Pole ist er zu verstehen. Katar war bettelarm und ist steinreich. Katar ist geografisch klitzeklein und muss daher politisch groß werden. Das geht nur, indem es Fortschritt verkörpert, obwohl es stockkonservativ ist. Halb so groß wie Hessen, ein Achtel von Österreich – das waren die Rahmendaten zur WM-Bewerbung, die Katar 2008 einreichte und die zitiert wurden, als es zwei Jahre später das Spitzen-Event zugesprochen bekam. Man nennt Katar den „Daumen Arabiens“, auf der Landkarte sieht es aus wie eben ein kleiner Teil Saudi-Arabiens, der in den Persischen Golf hineinwächst.
Eigenständigkeit und Soft Power
Noch vor gut 50 Jahren, so führt es Olaf Jansen in seinem Buch „Katar. Der Wüstenstaat und die Fußball-Weltmeisterschaft“ (Arete Verlag) aus, konnte man in Katar nur von Fischerei und Perlentaucherei leben und bewegte sich in Eselskarren zwischen den Lehmhäusern von Al Bidda; Doha, die Hochhausstadt, gab es noch nicht. Alles änderte sich, als Ölvorkommen entdeckt wurden. Katar erkannte sein Potenzial, und als 1971 die Briten aus den Gebieten um den Suez-Kanal abzogen, rief es seine Eigenständigkeit aus. Weder wollte es von Saudi Arabien vereinnahmt werden, noch sich den Vereinigten Arabischen Emiraten um Dubai und Abu Dhabi anschließen. Damit war eine Wettkampfsituation geschaffen – und der Konflikt in der Welt. Erst recht, als der noch größere Schatz als Öl gehoben wurde: Gas.
Katar musste sich behaupten, und weil es mit seinen knapp drei Millionen Einwohnern, von denen nur ein Zehntel Katari sind, militärisch keine Macht sein kann, entwickelte es das Konzept des Schutzes über die Soft Power: Einfluss zu nehmen über weiche Faktoren, regen Handel zu betreiben mit der Welt, Geld sprechen zu lassen und sich in westliche Firmen einzukaufen, außerdem zu einem Faktor in der Kultur und – „weil das mehr rockt“, so der Journalist Ronny Blaschke – im Sport, speziell im Fußball zu werden. Den Anrainerstaaten soll klar sein: Wer Katar angreift, legt sich mit vielen Ländern an. Katar ist Teilhaber bei Volkswagen, der Deutschen Bank, bei Siemens, dessen ehemaliger Vorstandsvorsitzender Joe Kaeser im ARD-Podcast „Geld. Macht. Katar“ sagte: „Katars Investments sind alle Strategie.“
Fußball-WM als Krönung
Die Krönung war es, die Fußball-Weltmeisterschaft zu bekommen, die neben Olympischen Spielen größte Bühne. Katar steht in diesem Jahrhundert in einer Reihe mit Japan, Südkorea, Deutschland, Südafrika, Brasilien und Russland und danach USA, Kanada, Mexiko (die 2026 dran sein werden). In der Region führte das zu Eifersüchteleien. Verschärft wurde die Situation durch Al Jazeera. Der Nachrichtensender, der die arabischen Länder beeinflusst, sitzt in Doha, 1993 wurde er gegründet, dafür kaufte man Profis der BBC in London ein. Nach innen agiert Al Jazeera zahm, die Ausbeutung der 900.000 Arbeitsmigranten in Katar ist für den katarischen Sender kein Thema. Nach außen jedoch befeuert er, gibt sich als „Voice of the Voiceless“, Stimme der Unterdrückten – nur eben in anderen Ländern. Katar unterstützt auch Gruppen, die mancherorts als Terrororganisationen eingestuft werden: die Hamas in Gaza, die Al-Nusra-Front in Syrien, die Muslimbruderschaft in Ägypten.
2017 die Eskalation: Saudi-Arabien, Ägypten, die Vereinigten Emirate und Bahrain verhängten eine Blockade gegen Katar, die Saudis machten die einzige Landgrenze, die Katar hat, dicht. Den staatlichen Qatar Airways wurden Überflugrechte verwehrt. Einen Katalog von 13 Forderungen sollte Katar erfüllen, darunter die Schließung von Al Jazeera. Katar ging auf nichts ein, ließ seine Beziehungen spielen, ließ tausend Kühe aus Australien einfliegen, die Lebensmittel kamen aus der Türkei, die sich im Gegenzug über Stützungskäufe der schwächelnden Lira freuen durfte.
„Wir sind während des Embargos aufgeblüht“, sagt Prinzessin Mayassa, Tochter von Sheikha Moza, in der Arte-Dokumentation „Katar – Gas und Spiele“. Anfang 2021 wurde die Blockade aufgehoben. Und Katar erlebte sein großes Jahr, es konnte eine weitere Kostbarkeit in sein Portfolio aufnehmen: Diplomatie. Die Offenheit nach allen Seiten zahlte sich aus. Denn nicht nur amerikanische Soldaten waren im Land – mit 13.000 Kräften auf der Airbase, die für die USA seit 2003 zentral für den arabischen Raum ist –, sondern auch die Taliban. Sie betreiben ein Büro in Doha, über das konnten Verhandlungen geführt und rund um den Abzug der Amerikaner aus Afghanistan noch viele Menschen evakuiert werden. Für Qatar Airways, das die Flüge übernahm, die perfekte Imagepflege.
„Vision 2030“
Schließlich 2022: Energiekrise in Europa, der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck kommt als Bittsteller nach Katar, er braucht Flüssiggas. US-Präsident Joe Biden empfängt Emir Tamim bin Al Thani im Weißen Haus, er nennt Katar einen „Verbündeten der NATO, ohne Mitglied zu sein“. Jetzt kommt noch der Fußball. Und wenn der lauter tönt als die Missfallensbekundungen der freien Welt, weil Katar seine Arbeiter als „Menschen dritter und vierter Klasse behandelt“, so der deutsche Fußballfunktionär Oliver Bierhoff, dann hat Katar gewonnen. Es ist unentbehrlich geworden und noch nicht am Ende. Der Staatsplan ist langfristig angelegt. Er heißt „Vision 2030“.
