Analyse
In Syrien und Irak – Wie Erdogan indirekt Krieg gegen die USA führt
Der Gaza-Krieg ist nicht der einzige Brandherd im Nahen Osten. Seit drei Wochen bombardiert die Türkei im Nordirak Stellungen der PKK und der mit der Kurdischen Arbeiterpartei verbündete YPG im Norden Syriens.
Die zwei Tage vor dem Terrorüberfall der Hamas gestartete Militäroperation in Nordsyrien findet auf hochsensiblem Terrain statt, denn dort sind US-Truppen im Rahmen des Antiterrorkrieges gegen den Islamischen Staat (IS) stationiert. Zudem ist die Türkei wegen der explizit anti-israelischen Rhetorik und der Freundschaft Präsident Recep Tayyip Erdoğans zur Hamas-Führung ein wichtiger Akteur im neuen Nahostkonflikt.
Mit dem bis heute anhaltenden Beschuss durch Drohnen, Kampfjets und Artillerie wurden nach Angaben der syrischen Kurden rund 80 Prozent der zivilen Infrastruktur in Rojava zerstört. Hierbei handelt es sich um ein selbst verwaltetes Kurdengebiet im Norden Syriens, das von der Partei der Demokratischen Union (PYD) kontrolliert wird. Die Kurdenführung wirft der Türkei Kriegsverbrechen vor, diese rechtfertigt die Bombardements mit einem versuchten Terroranschlag der türkischen Kurdenguerilla PKK auf das Innenministerium in Ankara am 1. Oktober.
Der Terrorangriff der Hamas auf Israel ließ das Kriegsgeschehen in Syrien in den Hintergrund treten, obwohl die dort stationierten US-Spezialkräfte am 5. Oktober eine türkische Angriffsdrohne nahe der Stadt Hasaka abgeschossen hatten – ein einmaliger Vorgang in der Geschichte der Nato und eine klare Warnung an Ankara. Das US-Oberkommando erklärte den Abschuss damit, dass sich die Drohne bis auf 500 Meter einer US-Basis genähert habe. Neunhundert US-Soldaten sind im Süden Rojavas stationiert, um gemeinsam mit den von der kurdischen YPG geführten Syrisch-Demokratischen Kräften (SDF) ein Wiedererstarken des IS zu verhindern.
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Diese Analyse liegt IPPEN.MEDIA im Zuge einer Kooperation mit dem Security.Table Professional Briefing vor – zuerst veröffentlicht hatte sie Security.Table am 27. Oktober 2023.
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Tausende IS-Kämpfer seit Jahren in Gefangenschaft
Die SDF bewachen seit Jahren Tausende gefangene IS-Terroristen, ein Pulverfass, das jederzeit explodieren kann, falls die Miliz weiter durch türkische Angriffe geschwächt wird. „Damit wird dem IS in die Hände gespielt“, sagt der in Istanbul lebende, für die Johns-Hopkins-Universität tätige Türkei-Experte Gareth Jenkins.
Vor zwei Wochen erklärte Erdoğan die „erste Phase“ der „Terrorbekämpfung“ in Nordostsyrien für beendet, obwohl die Bombardements mit geringerer Intensität fortgesetzt werden. Das konkrete strategische Ziel benannte er nicht. Drei Szenarien gelten als wahrscheinlich:
- Die Türkei will erklärtermaßen eine 30-Kilometer breite Sicherheitszone auf syrischem Territorium entlang der Grenze einrichten und dort in die Türkei geflüchtete sunnitische Syrer ansiedeln.
- Die Türkei will die Selbstverwaltung Rojavas zerstören, weil diese als mächtiges politisches Vorbild für die 18 Millionen Kurden in der Türkei wirkt.
- Die Türkei will die US-Truppen aus Syrien und langfristig aus dem Nahen Osten herausdrängen. „Was haben die Amerikaner in Syrien zu suchen?“, fragte Erdoğan kürzlich.
Eventuell will die Türkei Nordostsyrien wie andere Gebiete Nordsyriens besetzen. „Dabei gibt es neben den Amerikanern aber ein weiteres Hindernis“, sagt Gareth Jenkins. „Der eigentliche Grund, warum die Türkei bisher nicht in Rojava einmarschiert ist, ist Russland.“ Moskau kontrolliert weitgehend den Luftraum über Syrien und hat eigene Truppen nahe der türkischen Grenze stationiert. „Wir müssen abwarten, was Russland jetzt sagt.“
Assad pocht auf türkischen Abzug aus Syrien
Die syrischen Schutzmächte Russland und Iran träumen schon lange davon, die USA endgültig aus Syrien – und dem Irak – zu vertreiben. Würde die Türkei das erledigen, indem sie der US Army den kurdischen Partner nähme, wäre das hochwillkommen. Allerdings sperrt sich Damaskus kategorisch gegen eine türkische Intervention ohne vorherigen Rückzug aus den von türkischen Truppen besetzt gehaltenen Gebieten rund um Afrin. Der syrische Diktator Baschar al-Assad hat deshalb im August Verhandlungen mit der Türkei über eine Normalisierung der Beziehungen platzen lassen.
Erdoğan könnte trotzdem versucht sein, die Ablenkung Washingtons durch den Gaza-Krieg zu nutzen – zumal von dort widersprüchliche Signale kommen. So beeilte sich das Pentagon, den Drohnenabschuss Anfang Oktober als „bedauerlichen Zwischenfall“ herunterzuspielen und unternahm nichts gegen die türkischen Luftangriffe auf Rojava, soweit sie nicht US-Basen betrafen. Wichtigster Grund für die Zurückhaltung ist die für unverzichtbar gehaltene geostrategische Position der Türkei.
Der türkische Präsident braucht andererseits finanzielle Unterstützung aus dem Westen für die türkische Wirtschaft. „Erdoğan testet aus, wie weit er gehen kann“, sagt Jenkins. Das haben die Amerikaner verstanden und halten inzwischen dagegen. Am 12. Oktober verlängerte US-Präsident Joe Biden eine bestehende offizielle Sanktionsandrohung gegen die Türkei um ein Jahr, da Ankara mit der Militäroffensive „Frieden, Sicherheit und Stabilität in der Region zu unterminieren“ drohe. Außerdem stelle die Türkei dadurch „eine außergewöhnliche Bedrohung der nationalen Sicherheit und Außenpolitik der USA“ dar. Prompt nannte Erdoğan die USA eine „außergewöhnliche Bedrohung der nationalen Sicherheit der Türkei“.
Trotz der Eiszeit zwischen den Nato-Partnern ist Jenkins überzeugt, dass die Amerikaner früher oder später aus Syrien abziehen werden. Zwar könne Biden in einer Lage, in der die Hamas und der Islamische Staat als dasselbe Übel betrachtet würden, keinen Abzug aus Syrien anordnen. Aber die Kurden sind maximal irritiert. Ein SDF-Sprecher bezeichnete gegenüber der Nahost-Plattform Al-Monitor die Kommentare aus Washington als „unzureichend“: „Wir hoffen auf eine klarere Haltung der amerikanischen Seite.“ Experte Jenkins hält das für vergeblich. Er glaubt, dass den syrischen Kurden nur ein Ausweg bleibt, um sich langfristig zu schützen. „Die Türkei will sie vernichten, Russland droht ihnen, sie fallenzulassen. Also müssen sie in den sauren Apfel beißen, sich mit Damaskus einigen und sich der Kontrolle durch Assad unterstellen.“