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Bundeskanzler auf China-Reise

„Tibet steht an einem Wendepunkt: Kann unsere 4700 Jahre alte Zivilisation überleben, oder geht sie unter?“

Wenn Olaf Scholz am Dienstag mit Chinas Staatschef zusammentrifft, wird er auch die Menschenrechte in dem Land ansprechen. Vor allem in Tibet sei die Lage desolat, sagt ein Aktivist.

Rund eine Million Kinder werden in Tibet gegen den Willen ihrer Familien in Internate geschickt, kritisieren die Vereinten Nationen. Das System ziele darauf ab, die Kinder an die Mehrheitskultur der Han-Chinesen „zu assimilieren“, heißt es in einem UN-Bericht aus dem vergangenen Jahr. Chinas Regierung, die Tibet seit den 1950-er Jahren kontrolliert, spricht von „Lügen und Gerüchten“. Aufgedeckt hat das Ausmaß des Internatssystems der tibetische Soziologe Gyal Lo. China gehe es um „absolute Kontrolle“, sagt Lo. Und er hat eine klare Botschaft an Olaf Scholz, der am Dienstag mit Chinas Staatschef Xi Jinping zusammentreffen wird.

Herr Lo, vor rund zwölf Jahren ist Xi Jinping in China an die Macht gekommen. Wie hat sich die Lage in Tibet seitdem verändert?
Sie ist deutlich schlechter geworden. Vor allem, seit Xi Jinping 2017 seine zweite Amtszeit begonnen hat. Seitdem sitzt er fest im Sattel und kann tun, was er will. Die Menschen in Tibet können ihre Religion nicht mehr frei ausüben, es gibt keine Meinungsfreiheit mehr. Ich glaube, Tibet steht an einem Wendepunkt: Kann unsere 4700 Jahre alte Zivilisation überleben, oder geht sie unter?
Wie meinen Sie das?
Xi Jinping geht es um absolute Kontrolle. Kulturelle Vielfalt stört da nur. Deswegen will er alle Unterschiede eliminieren, alle Minderheiten müssen sich unterordnen, ihre Kulturen werden zerstört. Ein wichtiges Instrument der chinesischen Regierung in Tibet sind Internate, in denen die Kinder nur Chinesisch sprechen dürfen.
Gyal Lo ist Soziologe und Experte für das tibetische Bildungssystem. Geboren wurde er in Tibet, heute lebt er im Exil in Kanada.
Sie sagen, dass in Tibet rund eine Million Kinder gegen den Willen ihrer Familien in solche Internate gesteckt werden. Wie kommen Sie auf diese Zahl?
Das ist eine eher konservative Schätzung. Ich habe Dutzende dieser Internate besucht, in manche gehen 80 Kinder, in andere sogar 300. So habe ich hochgerechnet, wie viele Kinder in ganz Tibet auf solche Internate geschickt werden. Und die Zahlen steigen sogar noch an.

„Schon Vierjährige werden in Tibet auf Internate geschickt“

Was machen diese Internate mit den Kindern?
Schon Vierjährige werden auf die Internate geschickt. Dort sind sie für lange Zeit von ihren Familien getrennt und verlernen schließlich ihre Muttersprache, Tibetisch. Auch die tibetische Kultur wird dort nicht gelehrt. Das Programm gibt es seit 2016. Es ist schon so weit, dass Kinder ihre eigenen Eltern kritisieren, wenn diese nicht Chinesisch sprechen.
Auch Ihre beiden Großnichten haben solche Internate besucht …
Es ist sehr schmerzhaft für mich, darüber zu sprechen. Die Mädchen waren vier und fünf Jahre alt, als mich mein Bruder eines Tages anrief und mir sagte, dass ihn das Verhalten seiner Enkelinnen beunruhige. Also bin ich zu ihrer Schule gefahren und habe sie abgeholt. Sie haben kaum mit mir gesprochen, und als wir dann zu Hause waren, saßen sie nur da, als wären sie Gäste. Nach nur drei Monaten in diesem Internat haben sie die Beziehung zu ihrer Familie völlig verloren und kaum mehr Tibetisch gesprochen.
Die chinesische Regierung sagt, dass die Eltern ihre Kinder freiwillig auf die Internate schicken und dass dort Tibetisch gelehrt wird.
Das ist eine Lüge! Das Traurige ist: China kommt damit durch. Sie wiederholen ihre Lügen einfach so oft, bis sie zu einer Wahrheit werden. Ich habe das selbst erlebt, als ich vor dem UN-Menschenrechtsrat in Genf über die Internate gesprochen habe. Viele Mitglieder haben nicht mir geglaubt, sondern Chinas Propaganda.
Ein pro-tibetischer Demonstrant wird bei einer Protestaktion vor der chinesischen Botschaft in Neu-Delhi festgenommen (Archivbild).

„Stellen Sie sicher, dass Sie sehen, was Chinas Regierung zu verstecken versucht“

China sagt auch, dass sich der Lebensstandard der Tibeter seit Jahren verbessert.
Natürlich: Einige Menschen in Tibet haben nun ein Auto, viele haben ein Smartphone. Aber von der Entwicklung in Tibet, von den vielen Touristen, die das Land besuchen, profitieren vor allem die Chinesen. Ihnen gehören all die schicken Läden, sie machen das ganze Geld. Die Tibeter hingegen werden an den Rand gedrängt. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als in chinesische Großstädte zu gehen und dort als Wanderarbeiter zu schuften. So werden sie immer mehr von ihren Wurzeln entfremdet.
Der deutsche Bundeskanzler reist am Wochenende nach China. Was geben Sie Olaf Scholz mit auf den Weg?
Meine Botschaft an ihn lautet: Stellen Sie sicher, dass Sie sehen, was Chinas Regierung zu verstecken versucht. Trauen Sie ihnen nicht! Scholz muss klar sein, dass es nicht möglich ist, wirtschaftliche Themen von der Frage der Menschenrechte zu trennen. Genau das behauptet China immer, aber es ist falsch.
Sie haben China 2020 verlassen und leben heute im kanadischen Exil. Fühlen Sie sich dort sicher?
Nein. Ich kann nicht alleine nach draußen gehen, sondern brauche immer jemanden, der mich begleitet. Mein Leben ist nicht einfach. Und ich befürchte, dass ich nie nach Tibet zurückkehren kann.

Interview: Sven Hauberg

Rubriklistenbild: © Money Sharma/AFP

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