Die Zeit drängt
Ukraine-Offensive in „6 bis 7 Wochen“ gescheitert? US-Offizieller deutet Fehleinschätzung an
Offenbar machen die USA der Ukraine Druck, bis zum Spätherbst im Süden Fortschritte gegen die russische Armee zu erzielen. Ein Analyst aus Washington klingt verhalten.
Washington - Die Momente im Ukraine-Krieg sind für Außenstehende kaum vorstellbar. Dann, wenn Soldaten vor dem Kampf letzte Instruktionen erhalten. Wenn sie nochmal durchgehen, was sie akribisch einstudiert haben. Ehe es weitergeht: das Schießen, das Töten, das Sterben.
Ukraine-Offensive gegen Russland: US-Analyst äußert sich öffentlich skeptisch
Während die ukrainischen Streitkräfte die russische Armee attackieren, nahen der Herbst und der Winter. Und damit schlechtes Wetter, was für militärische Einsätze meist schlecht ist. Was Russland in die Karten spielt?
Die amerikanische „Defense Intelligence Agency“ (dia), eine offizielle US-Behörde, die die Ukraine maßgeblich unterstützt, hat nun Fehleinschätzungen bei der Beurteilung der russischen Verteidigungslinien eingeräumt. Mehr noch: Erstmals äußerte sich ein führender Analyst aus den USA öffentlich skeptisch bezüglich eines möglichen Erfolgs der ukrainischen Gegenoffensive gegen die Truppen Moskaus.
Konkret: Trent Maul, Analysedirektor der dia, reagierte verhalten auf den ukrainischen Durchbruch durch den ersten von insgesamt drei russischen Verteidigungsgürteln im Süden des geschundenen Landes. „Hätten wir dieses Gespräch vor zwei Wochen geführt, wäre ich etwas pessimistischer gewesen“, meinte Maul im Gespräch mit dem Nachrichtenmagazin The Economist zwar: „Ihr Durchbruch auf diesen zweiten Verteidigungsgürtel ist tatsächlich ziemlich beachtlich.“
Ukraine-Offensive gegen Russland: USA räumen Fehleinschätzung ein
Aber: Amerikanische und ukrainische Beamte hätten die Tiefe der russischen Verteidigungsanlagen nicht erkannt und sie hätten ebenso wenig erkannt, wie schwierig es sein würde, diese Linien mit gepanzerten Fahrzeugen zu „durchbrechen“, gab der hochrangige Vertreter aus Washington unumwunden zu. Diese ehrliche Einschätzung ist umso bemerkenswerter, da die Behörde Mauls die russische Armee quasi seit Jahrzehnten genau studiert.
Es ist fraglich, ob die Ukrainer die Taktik angewendet haben, von der man gehofft hatte, dass sie damit in kürzerer Zeit aggressivere Gewinne erzielt hätten.
So wurde von der dia noch während des Kalten Krieges ein jährlich erscheinender Bericht mit dem Titel „Sowjetische Militärmacht“ verfasst, der laut The Economist von Regierungsmitgliedern eifrig gelesen wurde. Damit nicht genug der Skepsis: Während ukrainische Generäle der britischen Zeitung Guardian gesagt hatten, dass 80 Prozent der Bemühungen Russlands in den Aufbau seiner ersten und zweiten Linie flossen, glaubt Maul dagegen, dass der Großteil der russischen Fronttruppen erst am dritten Verteidigungsgürtel stationiert ist. Zum Beispiel rund um die strategisch wichtige Kleinstadt Tokmak, die das erste Ziel der Gegenoffensive im Süden ist. Was bisher jedoch nicht erreicht wurde.
Ukraine-Offensive gegen Russland: Setzen Kiews Kommandeure Truppen falsch ein?
Auch deshalb, weil ukrainische Kommandeure ihre erfahrensten Einheiten im Osten bei Bachmut stationiert hätten, wie die 3. Angriffsbrigade. Statt an der vorerst entscheidenderen Süd-Front, was amerikanische Beamte gegenüber Kiew kritisieren würden, heißt es in dem Bericht. „Es ist fraglich, ob die Ukrainer die Taktik angewendet haben, von der man gehofft hatte, dass sie damit in kürzerer Zeit aggressivere Gewinne erzielt hätten“, wird Maul von The Economist zitiert. Maßgeblich sei für die kommenden Wochen seiner Einschätzung nach, wie groß der Artillerievorrat der Ukrainer sei und wann das Wetter schlechter werde.
Ukraine-Offensive gegen Russland: Militärexperte erwartet bevorstehenden Höhepunkt
Laut des Nachrichtenmagazins gehe ein anderer, namentlich nicht genannter, amerikanischer Regierungsbeamter davon aus, dass in sechs bis sieben Wochen der Höhepunkt der Offensive erreicht sei. Dann werde bilanziert. Brisant: Einige Stimmen aus Washington gingen davon aus, dass die ukrainische Armee nicht mehr weit kommen werde, heißt es in dem Bericht. Auch der Militäranalyst Franz-Stefan Gady rechnet damit, dass die ukrainische Gegenoffensive bald kulminiert.
„Letztendlich geht es in dieser Abnützungskampagne darum, welche Seite über mehr Reserven verfügt“, schrieb Gady, der für das Institute for International Strategic Studies (IISS) in London arbeitet, am Montag (4. September) auf der Plattform X, vormals Twitter. Bislang liege der Fokus viel zu sehr auf ukrainischen Durchbrüchen durch russische Verteidigungslinien und viel zu wenig darauf, ob die Ukraine genügend Kräfte haben werde, um tief in besetzte Gebiete vorzudringen, erklärte er dem Deutschlandfunk.
Letztendlich geht es in dieser Abnützungskampagne darum, welche Seite über mehr Reserven verfügt.
Bei X schieb Gady weiter: „In einem Abnützungskampf, wie er jetzt stattfindet, ist langfristig das genaue Verhältnis der Verluste beider Seiten wichtiger als Geländegewinne.“ Und eben jene Verluste seien „signifikant“. Auf beiden Seiten. (pm)
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