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IPPEN.MEDIA-Interview
USA-Nato-Experte: „EU sollte sich nicht von Orbáns Toilettenpausen abhängig machen“
Europa ist durch Russland in Gefahr. Gleichzeitig untergräbt Trump die Nato. Der EU-Abgeordnete Cremer erklärt, wie die EU den Kontinent sichern kann.
Straßburg – Beim Thema Sicherheit wandert der Blick zuerst zur Nato und den nationalen Regierungen. Aber auch die Europäische Union könne da eine wichtige Rolle einnehmen, meint Tobias Cremer (SPD). Der EU-Abgeordnete spricht sich für eine geeinte und handlungsfähige Gemeinschaft aus. Unter anderem sitzt Cremer in der EU-Delegation für die Beziehung zu den Vereinigten Staaten und in der Nato-Delegation.
Herr Cremer, der neue US-Präsident Donald Trump hat kurz nach seiner Amtseinführung explizit gefordert, dass die EU die Ukraine im Kampf gegen Russland stärker finanziell unterstützt. Hat er recht?
Eine Sache irritiert mich in dieser Diskussion etwas. Ständig tun wir so, als wäre Trump jetzt der große Weckruf. Aber das stimmt nicht. Er ist der Wecker, der jetzt wieder losgeht, nachdem wir Europäer bereits zehnmal auf den „snooze button“ gedrückt haben, um ständig weiter zu schlummern. Wir dürfen nicht alles wörtlich nehmen, was Trump sagt und nicht über jedes Stöckchen springen, aber wir müssen ihn endlich ernst nehmen. Fakt ist: Die US-Sicherheitsinteressen richten sich zunehmend auf China und Taiwan. Diese Realität sollte niemanden überraschen. Folgerichtig müssen wir Europäer mehr Verantwortung auf unserem Kontinent übernehmen. Wir müssen vor unserer eigenen Tür kehren. Was mir positiv auffällt, sind Trumps Überlegungen, Russland mit weiteren Sanktionen zu belegen und die Stärke der Ukraine für mögliche Friedensverhandlungen zu erhöhen.
Plant die EU zurzeit neue Ukraine-Hilfen für Präsident Wolodymyr Selenskyj?
Wir müssen die Ukraine stärker unterstützen, keine Frage – und zwar unabhängig davon, wer im Weißen Haus sitzt. Die Stärkung der Ukraine ist im europäischen und deutschen Sicherheitsinteresse. Und ich glaube, dass wir uns auf dem richtigen Weg befinden. Das russische Vermögen einzufrieren und mit den Zinsen die Ukraine zu unterstützen, ist wichtig. So konnten wir die Finanzierung institutionalisieren und der Ukraine Sicherheit geben. Gleichzeitig ist das ein wichtiges Signal an Wladimir Putin: Die EU steht hinter der Ukraine und das bleibt auch so.
Die EU-Ausgaben für eine gestärkte Sicherheitspolitik sollten effizienter sein
Wie kann die EU neben finanziellen Hilfen die Ukraine weiter unterstützen?
Wir müssen die Ukraine finanziell, mit Waffenlieferungen und kluger Diplomatie in eine Position der Stärke bringen. Es geht jetzt aber auch darum, dass wir uns selbst verteidigungsfähig machen. Wir müssen mehr Geld für die Verteidigung ausgeben. Aber: Wir müssen nicht nur mehr ausgeben, sondern vor allem effizienter. Wir leben in einer neuen geopolitischen Realität und wir brauchen ein handlungsfähiges Europa. In den vergangenen Jahrzehnten haben wir auf die regelbasierte Ordnung gesetzt und gehofft, dass der Markt alles regelt. Jetzt leben wir in einer anderen geopolitischen Realität und der Staat muss handlungsfähig sein, um die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten. Gleichzeitig müssen wir die Wettbewerbsfähigkeit herstellen – ganz gezielt durch Investitionen.
Beispielsweise müssen wir in Deutschland die Schuldenbremse reformieren. Es ist wichtig, Sicherheit ganzheitlich zu definieren. Das heißt, wir dürfen äußere Sicherheit nicht gegen innere oder soziale ausspielen. Man kann das eine nicht ohne das andere haben. Die aktuelle Zeitenwende muss sozial gerecht gestaltet werden – denn Verteidigung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Sozialer Zusammenhalt und Rückhalt für die Verteidigung sind ein wichtiger Bestandteil unserer Resilienz. Da können wir zum Beispiel viel von Ländern wie Finnland lernen.
Theoretisch klingt das gut, aber in der Praxis stocken zurzeit deutsche Ukraine-Hilfen in Höhe von drei Milliarden Euro. Weil die Parteien sich uneinig über die Finanzierung sind.
Für mich ist es wichtig, dass wir keine Bereiche gegeneinander ausspielen. Die Debatte ist ja viel größer: Verteidigungsminister Boris Pistorius sagt, dass Deutschland künftig eher drei Prozent für Verteidigung ausgeben muss. Dabei geht es dann nicht um drei Milliarden, noch nicht einmal um 30 Milliarden – sondern: um Ausgaben im höheren zweistelligen Bereich. Diese Mittel kann Deutschland nicht allein durch den Haushalt bereitstellen.
Nato-Experte warnt: EU sollte nicht wie das Kaninchen vor der Schlange stehen
Eine eigene Planung und Sicherstellung der europäischen Verteidigungspolitik sind mit Blick auf Trumps Unberechenbarkeit vermutlich so wichtig wie noch nie. Glauben Sie, dass der neue US-Präsident die Ukraine-Hilfen zurückfahren wird?
Genau diese Spekulationen beabsichtigt Trump ja mit seiner Unberechenbarkeit. Wie ich bereits sagte: Die ersten Anzeichen sind nicht so negativ, weil er ja gesagt hat, dass die Ukraine unterstützt werden muss – natürlich auch von Europa. Was mir besonders wichtig ist: Wir Europäer dürfen nicht immer wie das Kaninchen vor der Schlange stehen. Wir müssen uns um unsere Sicherheit kümmern. Und gleichzeitig haben wir ein hohes Interesse an einer starken transatlantischen Partnerschaft. Das ist übrigens auch im Interesse der USA.
Wie kann sich Europa wieder zu einem starken und verlässlichen Partner entwickeln?
Wir brauchen ein Europa, das geeint und handlungsfähig ist. Vor allem müssen wir mit Einigkeit sprechen und uns nicht auseinander dividieren lassen. Wir benötigen bessere demokratische Entscheidungsprozesse in der gemeinsamen Verteidigungspolitik und sollten uns nicht ständig von Viktor Orbans Kaffee- oder Toilettenpausen abhängig machen. Ein solches starkes und handlungsfähiges Europa würde auch Herr Trump nicht als Partner verlieren wollen.
Ein mögliches Treffen zwischen Trump und Putin ist ein weiterer Beleg, dass die USA uns zurzeit nicht als Partner auf Augenhöhe sehen. Einige befürchten, dass Trump einen Deal über einen vermeintlichen Frieden in der Ukraine schließt – ohne eine Absprache mit den Europäern zu treffen. Im Sinne von: Ich mache das Abkommen, ihr sichert und finanziert den Frieden.
Es gibt ja dieses schöne Sprichwort: Voraussagen sind schwierig – vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen. Es richtig, dass – sollte es zu Verhandlungen kommen – diese nicht über den Köpfen der Europäer und Ukrainer laufen dürfen. Aber: Wir diskutieren jetzt über Schritt vier und fünf. Wir sollten zunächst beim ersten Schritt bleiben, das heißt: die Ukraine in eine Position der Stärke bringen und auch unsere eigene Verteidigungsfähigkeit stärken. Das wären die besten Voraussetzungen für etwaige Friedensverhandlungen.
EU-Abgeordneter fordert: Europa muss Nato-Standards wieder stringenter einhalten
Für die Zukunft muss sich auch Europa wappnen. Für diese Aufgaben stehen besonders die Nato und die nationalen Regierungen in der Pflicht. Was kann die EU tun, um die Bevölkerung zu schützen?
Die Handlungsspielräume erstrecken sich auf mehreren Ebenen. Unter anderen können auch wir auf EU-Ebene mehr Geld für die Verteidigung mobilisieren. Ich glaube aber, dass unser größter Hebel die Koordinierung der Beschaffung ist. Es geht darum, dass wir in Europa nicht mehr als ein Dutzend verschiedener Kampfpanzer haben und sich jedes Fahrzeug nochmal in Details unterscheidet. Zweitens müssen wir Nato-Standards wieder besser einhalten. Seit dem Ende des Kalten Krieges erkenne ich hier eine starke Vernachlässigung. Plötzlich kann die Munition eines Herstellers nicht mehr in allen nationalen Konfigurationen desselben Kampfpanzers verwendet werden. Das ist wieder ein gutes Beispiel, warum wir effizienter werden sollten. Wir müssen die Nato-Standards auch auf EU-Ebene stringenter durchsetzen und das klar gegenüber der Industrie kommunizieren.
Ukraine-Besuche im Krieg – Die Politik zeigt Solidarität
Könnte die EU auch Unternehmen unterstützen, um die Produktionskapazitäten des militärisch-industriellen Komplexes hochzufahren?
Absolut. Und hierbei geht es nicht nur um die großen Rüstungsunternehmen. Ich kenne mittelständische Firmen aus meinem Wahlkreis, die beispielsweise als Zulieferer in der Automobilbranche aktiv sind und sich auch eine Rolle als Zulieferer im Verteidigungssektor vorstellen können. Das Problem: Sobald sie das äußern, haben sie Schwierigkeiten, von Banken Kredite zu bekommen. Hier kann die EU zur Seite springen und Handlungsfähigkeit herstellen. Wir können, beispielsweise über die Europäische Investitionsbank, Kredite stellen. Das hätte eine bedeutsame Signalwirkung. Wir sollten Privatkapital nutzen, um unsere Industrie zu stärken. Darin ist Europa am besten: in der Industriepolitik.
Stichpunkt Handlungsfähigkeit: Als ein Hindernis gilt Bürokratie – auch in anderen Bereichen. Befürworten Sie einen Abbau?
Der Bürokratie-Abbau ist in jeglicher Hinsicht wichtig. Vor meinem Leben als EU-Abgeordneter arbeitete ich als Diplomat und war zuletzt für das Baltikum zuständig. Dort habe ich gesehen, wie Länder wie Estland bestimmte EU-Vorgaben mit gefühlt zwei Mausklicks oder einer App umsetzen – wohingegen Spanien für das gleiche Thema vielleicht sechs Seiten Papier aufsetzt. Und Deutschland 60 Seiten. Da können wir in Europa noch voneinander lernen und Bürokratie entschlacken ohne wichtige Qualitäts- und Sozialstandards aufs Spiel zu setzen. (Interview: Jan-Frederik Wendt)