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Erfahrene Diplomatin mahnt

Ukraine vor drei großen Hürden beim EU-Beitritt – „Stellen Sie sich vor, was Ungarn anstellen könnte“

Findet die Ukraine den Weg in die EU? Die lettische Außenpolitikerin Sandra Kalniete wünscht sich das – sieht aber massive Aufgaben. Für beide Seiten.

Straßburg – EU-Beitrittskandidat ist die Ukraine mittlerweile – doch der Weg nach Brüssel ist noch weit. Das sagt jedenfalls die lettische Europapolitikerin, ehemalige Außenministerin und Ex-EU-Kommissarin Sandra Kalniete im Gespräch mit IPPEN.MEDIA. Sie hat den EU-Beitritt ihres eigenen Landes im Jahr 2004 mitbegleitet. Nun sieht sie über den Ukraine-Krieg hinaus zwei bis drei „sehr komplizierte“ Probleme. Für die Ukraine. Aber auch für die EU selbst.

Ukraine-Beitritt: EU muss sich selbst reformieren, harter Widerstand droht

„Wir wissen alle um den Krieg – dennoch gibt es viele Probleme, die gelöst werden müssen“, sagte Kalniete bei einem Gespräch am Rande der konstituierenden Sitzung des EU-Parlaments in Straßburg. Auf Seite der Ukraine seien das fällige Reformen – etwa in Sachen Korruption. „Korruption zu besiegen, kann eine Generation dauern; ich weiß das, aus eigener Lebenserfahrung“, erklärte Kalniete. Ebenso große Aufgaben gebe es aber auch auf Seiten der EU.

EU-Ratspräsident Charles Michel (li.) und Wolodymyr Selenskyj beim G7-Gipfel in Italien.

Die europäischen Institutionen benötigten dringend eine Reform, mahnte die konservative EU-Abgeordnete: „Wir müssen vom Prinzip der Einstimmigkeit zu Mehrheitsentscheidungen.“ Dabei gebe es aber harten Widerstand. „Noch nicht mal in Lettland kann ich die Regierung überzeugen, dass das die einzige Lösung ist“, sagte Kalniete. Die Entscheidung für einen Schwenk zu Mehrheitsentscheidungen müsste einstimmig getroffen werden.

Das künftige Quorum könne man auch sehr hoch ansetzen, etwa auf 80 Prozent Zustimmung im Kreise der Mitgliedsstaaten, meint die frühere Diplomatin. Doch gelinge keine Änderung, werde es „keine Bewegung in den Verhandlungen“ geben – und womöglich „Beitrittsmüdigkeit“. Dies sei das gefährlichste Szenario.

Bauern wegen der Ukraine auf der Straße: „Enorme“ Landwirtschaft – „sehr schwierige Verhandlung“

„Für jedes der mehr als 30 Verhandlungskapitel ist Einstimmigkeit nötig. Stellen Sie sich vor, was Ungarn oder die Slowakei bei jedem der Kapitel anstellen können“, warnte Kalniete mit Blick auf die rechtspopulistischen und mehr oder minder russlandfreundlichen Regierungen von Viktor Orbán und Robert Fico. „Das muss verhindert werden, wir brauchen einen pragmatischen und rationaleren Weg.“

Auf dem Weg nach Europa: Die Aufnahmekandidaten der EU

EU Parlament Straßburg
Jeder europäische Staat hat laut Artikel 49 des EU-Vertrags das Recht, einen Antrag auf Mitgliedschaft zu stellen. Wichtig dabei: „Europäisch“ wird politisch-kulturell verstanden und schließt die Mitglieder des Europarats mit ein. Das betrifft zum Beispiel die Republik Zypern. Eine wichtige Rolle spielt im Beitrittsverfahren das EU-Parlament in Straßburg (im Bild). Verschiedene Delegationen verfolgen die Fortschritte in den Beitrittsländern und weisen auf mögliche Probleme hin. Zudem müssen die Abgeordneten dem EU-Beitritt eines Landes im Parlament zustimmen. Derzeit gibt es neun Beitrittskandidaten und einen Bewerberstaat. © PantherMedia
Edi Rama Albanian EU
Albanien reichte 2009 den formellen EU-Mitgliedschaftsantrag ein – vier Jahre, bevor Edi Rama (im Bild) das Amt des Ministerpräsidenten übernahm. Es dauerte aber noch eine lange Zeit, bis die Verhandlungen beginnen konnten. Grund war ein Einspruch der Niederlande, die sich zusätzlich zu den EU-Kriterien auch die Sicherstellung der Funktion des Verfassungsgerichts und die Umsetzung eines Mediengesetzes wünschte. Im Juli 2022 konnte die Blockade beendet werden und die EU startete die Beitrittsverhandlungen. © John Thys/afp
Bosnien und Herzegowina EU
Auch Bosnien und Herzegowina drängt in die EU. Gut erkennen konnte man das zum Beispiel am Europatag 2021, als die Vijećnica in der Hauptstadt Sarajevo mit den Farben der Flaggen der Europäischen Union und Bosnien und Herzegowinas beleuchtet war. EU-Botschafter Johann Sattler nutzte sofort die Gelegenheit, um das alte Rathaus zu fotografieren. Vor den geplanten Beitrittsverhandlungen muss das Balkanland noch einige Reformen umsetzen. Dabei geht es unter anderem um Rechtsstaatlichkeit und den Kampf gegen Korruption und organisiertes Verbrechen.  © Elvis Barukcic/afp
Georgien EU
Zum Kreis der EU-Beitrittskandidaten gehört auch das an Russland grenzende Georgien. Das Land, in dem rund 3,7 Millionen Menschen leben, hatte kurz nach Beginn des Ukraine-Kriegs die Aufnahme in die EU beantragt. Auf schnelle Fortschritte im Beitrittsprozess kann Georgien allerdings nicht hoffen. Dabei spielt auch ein ungelöster Territorialkonflikt mit Russland eine Rolle. Nach einem Krieg 2008 erkannte Moskau die abtrünnigen georgischen Gebiete Südossetien (im Bild) und Abchasien als unabhängige Staaten an und stationierte Tausende Soldaten in der Region. © Dimitry Kostyukov/afp
Moldau EU
Seit Juni 2022 gehört auch Moldau offiziell zu den EU-Beitrittskandidaten. Das Land, das an Rumänien und die Ukraine grenzt, reichte kurz nach Beginn des Ukraine-Kriegs das Beitrittsgesuch ein. Am 21. Mai 2023 demonstrierten 80.000 Menschen in der Hauptstadt Chișinău für einen Beitritt Moldaus in die Europäische Union. Die damalige Innenministerin Ana Revenco (Mitte) mischte sich damals ebenfalls unters Volk. © Elena Covalenco/afp
Montenegro EU
Das am kleine Balkanland Montenegro will beim EU-Beitritt zügig vorankommen. Direkt nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten Ende Oktober 2023 verkündete Milojko Spajic (im Bild), dass er den Beitritt Montenegros zur EU vorantreiben und die Justiz im Kampf gegen Korruption und organisiertes Verbrechen stärken wolle. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (rechts) hörte es damals sicher gerne. Montenegro verhandelt seit 2012 über einen Beitritt, hatte sich aber vor der Wahl nicht mehr ausgiebig um Reformen bemüht.  © Savo Prelevic/afp
Scholz Westbalkan-Gipfel Nordmazedonien EU
Nordmazedonien kämpft schon seit langer Zeit für den Beitritt in die EU. Leicht ist das nicht. So hat das kleine Land in Südosteuropa aufgrund eines Streits mit Griechenland sogar schon eine Namensänderung hinter sich. Seit 2019 firmiert der Binnenstaat amtlich unter dem Namen Republik Nordmazedonien. Auch Bulgarien blockierte lange den Beginn von Verhandlungen. Bei einem Gipfeltreffen im Oktober 2023 drängte Kanzler Olaf Scholz dann aber auf eine möglichst schnelle Aufnahme der Balkanstaaten in die EU. Nordmazedoniens Ministerpräsident Dimitar Kovacevski (rechts) war sichtlich erfreut. © Michael Kappeler/dpa
Serbien EU
Auch Serbien strebt in die EU. Wann es zu einem Beitritt kommt, scheint derzeit aber völlig offen. Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine hat sich die serbische Regierung geweigert, Sanktionen gegen Russland zu verhängen. Damit ist Serbien der einzige Staat in Europa, der keine Sanktionen verhängt hat. Offen bleibt, welche Auswirkungen das auf die seit 2014 laufenden Verhandlungen über einen EU-Beitritt Serbiens hat. Die politische Führung in Belgrad, die seit 2012 von Präsident Aleksandar Vučić (im Bild) dominiert wird, zeigt zudem wenig Willen zu Reformen. Demokratie und Medienpluralismus höhlt sie zunehmend aus. © Andrej Isakovic/afp
Türkei EU
Die Türkei ist bereits seit 1999 Beitrittskandidat. Die Verhandlungen selbst haben im Oktober 2005 begonnen. Inzwischen hat die EU-Kommission vorgeschlagen, die Beziehungen wieder auszubauen, sofern sich die Regierung in Ankara unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan (im Bild) in einigen Punkten bewegt. Zuvor waren Projekte wie die geplante Modernisierung der Zollunion und eine Visaliberalisierung wegen Rückschritten bei Rechtsstaatlichkeit, Grundrechten und Meinungsfreiheit in der Türkei auf Eis gelegt worden. Ein EU-Beitritt scheint aktuell weiter entfernt denn je. © Adem Altan/afp
Ukraine EU
Im Dezember 2023 wurde der Beginn von Verhandlungen mit der Ukraine grundsätzlich beschlossen. Allerdings muss die Ukraine sämtliche Reformauflagen erfüllen. So waren nach dem letzten Kommissionsbericht manche Reformen zur Korruptionsbekämpfung, zum Minderheitenschutz und zum Einfluss von Oligarchen im Land nicht vollständig umgesetzt. Ohnehin gilt es als ausgeschlossen, dass die Ukraine vor dem Ende des Ukraine-Kriegs EU-Mitglied wird. Denn dann könnte Kiew laut EU-Vertrag militärischen Beistand einfordern – und die EU wäre offiziell Kriegspartei. © Roman Pilipey/afp
Kosovo EU
Kosovo hat einen Mitgliedsantrag eingereicht, jedoch noch nicht den offiziellen Status eines Beitrittskandidaten erhalten. Das Land hat 2008 seine Unabhängigkeit von Serbien erklärt. Die Freude darüber war damals bei den Menschen riesengroß. Das Bild macht auch deutlich, dass vor allem Menschen albanischer Herkunft im Kosovo beheimatet sind. Die Flagge Albaniens (links) ist ebenso zu sehen wie die des neuen Landes (hinten). Mehr als 100 Länder, darunter auch Deutschland, erkennen den neuen Staat an. Russland, China, Serbien und einige EU-Staaten tun dies aber nicht. Ohne die Anerkennung durch alle EU-Länder ist eine Aufnahme von Beitrittsverhandlungen aber nicht möglich.  © Dimitar Dilkoff/afp

Eine weitere dringende Hausaufgabe sei die Agrar-Politik, sagte die frühere EU-Agrar-Kommissarin. Die Ukraine besitze eine „enorme“ Landwirtschaft. Schon jetzt habe es Proteste gegen die im Ukraine-Krieg erleichterten Importe aus dem Land in die EU gegeben. „Die polnischen Landwirte waren auf der Straße, auch in Italien und Deutschland gab es Widerstand. Deshalb werden die Verhandlungen mit der Ukraine sehr schwierig werden.“ Dennoch betonte Kalniete: Der Beitritt der Ukraine sei für Lettland eine der großen politischen Prioritäten. Die Lettin forderte auch einen „Siegesplan“ für das von Russland angegriffene Land. (fn)

Rubriklistenbild: © IMAGO/Pool /Ukrainian Presidentia

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