Kurdenfrage
Rechtsradikale MHP will Öcalan vor Parlament sprechen lassen – kurz vor Terroranschlag
Kaum hat Nationalistenführer Bahceli indirekt die Freiheit für den Kurdenführer Abdullah Öcalan gefordert, gibt es einen Terroranschlag in Ankara. Das Ganze wirft Fragen auf.
Ankara – Die Worte des Vorsitzender der rechstradikalen MHP, Develt Bahceli, waren für viele in der Türkei ungewöhnlich. „Sollte die Isolation des Terroristenführers aufgehoben wird, soll er im türkischen Parlament und bei der Fraktionssitzung der DEM-Partei sprechen. Er soll schreien, dass der Terrorismus zu Ende ist und die Organisation aufgelöst wurde“, sagte er in seiner Rede vor seiner Fraktion.
#SONDAKİKA | MHP Genel Başkanı Devlet Bahçeli:
— 23 DERECE (@yirmiucderece) October 22, 2024
"Terörist başının tecriti kaldırılırsa gelsin TBMM'de DEM Parti grubunda konuşsun, terörün tamamen bittiğini, örgütün lağvedildiğini haykırsın." pic.twitter.com/7Ty5bTolfY
Damit fordert Bahceli, dessen Partei Präsident Recep Tayyip Erdogan und seine AKP unterstützt, die Auflösung der verbotenen Arbeiterpartei PKK. Gleichzeitig bot der Führer der türkischen Rechtsradikalen dem früheren Anführer der PKK, Abdullah Öcalan, indirekt die Freiheit an. Theoretisch könnte es künftig zu gesetzlichen Änderungen kommen.
Denn die Worte von Bahceli tragen Gewicht, erzählt der kurdisch-alevitische Schriftsteller Aziz Tunc im Gespräch mit fr.de von IPPEN.MEDIA. „Bahceli hat damit akzeptiert, dass es eine kurdische Frage gibt. Und er hat auch akzeptiert, dass diese Frage nicht mit Gewalt gelöst werden kann“. „Die kurdische Frage“ könne auch nicht über die Kurden hinweg gelöst werden.
Kritik an Worten von Bahceli in eigener Partei und AKP
Innerhalb der MHP gibt es wegen der versöhnlichen Worte an Öcalan Kritik an Bahceli. „Wir sind weder so hilflos noch entmutigt genug, um zuzusehen, wie der größte Babymörder als Gesprächspartner in unsere Nationalversammlung eingeladen wird“, schreibt der Berater der MHP-Fraktion, Oguzhan Güngör, in einem offenen Brief an Bahceli. Daraufhin wurde Güngör von der MHP entlassen.
Bahceli hat seine Worte über Öcalan offenbar nicht mit Präsident Erdogan abgesprochen. „Der Präsident hatte keine Kenntnis von der Erklärung von Bahceli. Es handelt sich nicht um eine Angelegenheit, die vorher zwischen ihnen besprochen und konsultiert wurde. Unser Präsident hat erst nach der Fernsehansprache davon erfahren“, sagte Samil Tayyar, ehemaliger AKP-Abgeordnete und Weggefährte von Erdogan, in einer TV-Sendung. Niemand habe die Macht, Öcalan im Parlament sprechen zu lassen, schrieb Tayyar zudem auf X. Zwischen Erdogan und Bahceli könnte daher ein Konflikt entstehen.
Terroranschlag gegen Rüstungskonzern TUSAŞ in Ankara
Die Annäherungsversuche von Bahceli an die Kurden wurden jedoch von einem Anschlag am Mittwoch auf die staatliche Rüstungsschmiede TUSAŞ überschattet. Drei Attentäter drangen in den Komplex nahe der Hauptstadt Ankara ein und töteten fünf Personen, 22 weitere wurden verletzt. Die türkische Regierung beschuldigt die PKK und hat Befehl erteilt, Stellungen im Irak und Syrien zu bombardieren.
Tote und Verletzte in Syrien bei türkischen Angriffen
Besonders Zivilisten sind dabei die Leidtragenden der türkischen Angriffe. „In der Nacht zum 24. Oktober 2024 sind durch schwere Luftangriffe der Türkei auf Wohngebiete in Nord- und Ostsyrien mindestens 12 Zivilisten getötet worden, darunter auch 2 Kinder. Mindestens 25 Menschen wurden verletzt“, teilt die Vertretung der Demokratischen Selbstverwaltung der Region Nord- und Ostsyrien in Deutschland mit.
Die Luftangriffe zielten auf die Infrastruktur der Region ab, darunter Wohngebäude, Gesundheitseinrichtungen, Bäckereien, Kraftwerke und Ölfelder. Von Nord- und Ostsyrien gehe keinerlei Gefahr für die Türkei aus, bekräftigt Khaled Davrisch, Repräsentant der Selbstverwaltung in Deutschland. „Wir haben die Türkei noch nie angegriffen“. Bislang hat sich die PKK nicht zu dem Anschlag auf den Rüstungskonzern bekannt.
Anschlag in Ankara und Aufhebung der Isolation von Öcalan am selben Tag
Ungünstiger hätte der Anschlag auf TUSAŞ nicht erfolgen können. Öcalan konnte erstmals im Gefängnis von der Insel Imrali nach über drei Jahren Isolationshaft Besucher empfangen. „Am 23. Oktober hatte ich die Gelegenheit, Abdullah Öcalan im Hochsicherheitsgefängnis auf der Insel İmralı im Rahmen eines Familientreffens zu besuchen. Während unseres Gesprächs analysierte Herr Öcalan eingehend die aktuellen politischen Entwicklungen. Er betonte, dass seine Isolation weiterhin andauere, aber sollte der richtige Rahmen geschaffen werden, sei er bereit und in der Lage, den derzeitigen Konflikt von einem gewaltsamen in einen rechtlichen und politischen Prozess zu überführen“, schreibt sein Bruder und Abgeordnete der pro-kurdischen DEM-Partei, Ömer Öcalan, auf X. Der ehemalige Führer der PKK sei bei guter Gesundheit.
DEM-Partei fordert Unterstützung bei Kurdenfrage in der Türkei
Leyla Imret, diplomatische Vertreterin der pro-kurdischen DEM-Partei in Deutschland, mahnt im Gespräch ebenfalls mit unserer Redaktion, den Worten von Öcalan Gehör zu schenken. Die Erklärung von Abdullah Öcalan sei eine Chance für eine friedliche und politische Lösung der kurdischen Frage in der Türkei. Deswegen bedarf es der Unterstützung auch aus Deutschland. „Gerade für die fortschrittlichen politischen Kräfte in der Region wäre es bereits ein Fortschritt, wenn Staaten wie Deutschland nicht einseitig auf der Seite ihres NATO-Partners Türkei stünden und kurdische Politiker in Deutschland und Europa weiterhin verfolgt und kriminalisiert würden.“
Zeitpunkt von Anschlag in Ankara wirft Fragen auf
Ähnlich sieht es auch Dersim Dagdeviren, Vorstandsmitglied der EU Turkey Civic Commission (EUTCC), ebenfalls im Gespräch mit unserer Redaktion. „Entscheidend ist nun, ob das Angebot von Herrn Öcalan angenommen wird, das er bei dem Treffen mit seinem Neffen und DEM Abgeordneten Ömer Öcalan nach mehr als drei Jahren Totalisolation gemacht hat“, so Dagdeviren. Auch das Vorgehen nach dem Anschlag vom Mittwoch werfe Fragen auf. „Während der türkische Innenminister umgehend den Anschlag der PKK zuordnete, hat diese noch kein Statement dazu veröffentlicht. Der Zeitpunkt des Anschlages wirft Fragen auf, ebenso die Reaktion des türkischen Staates“.
Zuletzt hatten 69 ehemalige Nobelpreisträger in einem gemeinsamen Brief an mehrere Organisationen des Europarates sowie an das UN-Menschenrechtskomitee und einem weiteren Brief an den türkischen Präsidenten die endgültige Freilassung des kurdischen Führers sowie die Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen zwischen Öcalan und der türkischen Regierung gefordert. (erpe)
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