Demografischer Wandel
„Neue Gebärkultur schaffen“: Umstrittene Methoden sollen Chinas Bevölkerungsproblem lösen
Wegen der niedrigen Geburtenraten drohen China massive Probleme in Wirtschaft und Gesellschaft. Mehrere Maßnahmen sollen Abhilfe schaffen. Einige davon sind umstritten.
Diese Analyse liegt IPPEN.MEDIA im Zuge einer Kooperation mit dem China.Table Professional Briefing vor – zuerst veröffentlicht hatte ihn China.Table am 8. Juni 2023.
Peking – Chinas Staatschef Xi Jinping hat sich die „große Verjüngung der chinesischen Zivilisation“ auf die Fahnen geschrieben. Doch die Bevölkerung Chinas befindet sich auf einem entgegengesetzten Pfad: Sie altert, und das rapide. Im vergangenen Jahr ist die Bevölkerungszahl erstmals seit sechs Jahrzehnten geschrumpft. Wenn sie weiterhin so stark rückläufig bleibt, wird das massive Auswirkungen auf Chinas Sozialsystem und seine Wirtschaftskraft haben.
Die Folgen sind zum Teil schon jetzt spürbar, und das sogar sehr konkret, wie die Gründerin einer Firma für Baby-Bedarf aus Shanghai kürzlich in einem Zeitungsinterview berichtete: Man spiele mit dem Gedanken, in den nächsten drei bis fünf Jahren von Baby- auf Haustier-Kleidung umzusatteln.
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Aufgrund zahlreicher Herausforderungen zögern die Chinesen mit dem Kinderkriegen. Dass Peking seine Ein-Kind-Politik aufgehoben hat und mittlerweile sogar drei Kinder pro Familie erlaubt, hat an dieser Entwicklung nichts geändert: Offiziell lag die Geburtenrate 2020 bei 1,3 Kindern pro Frau.
Hohe Kosten für Erziehung und Ausbildung lassen Chinas Bevölkerung schrumpfen
Die Kosten für die Erziehung und Ausbildung eines Kindes bis zu seinem 18. Lebensjahr sind in China im Verhältnis um einiges höher als beispielsweise in Deutschland oder in den USA: Während sie in China im Jahr 2019 mit umgerechnet rund 67.600 Euro das 6,9-fache des jährlichen Pro-Kopf-BIP betrugen, müssen Eltern in den USA das 5,25-fache und in Deutschland sogar nur das 3,64-fache des jährlichen Pro-Kopf-BIP aufwenden. Viele Frauen befürchten zudem, dass es negative Auswirkungen auf ihre Karriere haben könnte, wenn sie ein Kind bekommen.
Erst im März kam es in Chinas sozialen Medien zu empörten Diskussionen, weil ein Unternehmen in Wuhan einer jungen Frau aufgrund ihrer Schwangerschaft gekündigt haben soll. Die im Gesetz verankerten „Sonderbestimmungen zum Arbeitsschutz für weibliche Beschäftigte“, die es Arbeitgebern verbietet, den Lohn von weiblichen Beschäftigten zu kürzen oder ihren Arbeitsvertrag zu kündigen, wenn sie schwanger sind, werden selten juristisch durchgesetzt. Zudem existieren zahlreiche Schlupflöcher, mit denen Firmen die Bestimmungen umgehen können. In Chinas Sozialmedien kursieren viele Berichte darüber, wie Bonus-Zahlungen gekürzt werden oder Mitarbeiterinnen gegängelt werden, bis diese von selbst kündigen.
In einem Kommentar in der staatlichen Zeitung Economic Daily heißt es, der Staat müsse Chinas jungen Eltern nun helfen, „ein moderates Fruchtbarkeitsniveau zu erreichen und die demografische Struktur zu optimieren“. So will China etwa die Zahl der Kinderbetreuungseinrichtungen bis 2025 verdoppeln, wie der staatliche Fernsehsender CCTV berichtet. Die Zahl der Betreuungspersonen pro 1.000 Einwohner soll von 2,5 im Jahr 2022 auf 4,5 im Jahr 2025 steigen.
China plant Anreize für „ein moderates Fruchtbarkeitsniveau“
Gleichzeitig wurden in mehr als 20 Städten Pilotprojekte gestartet, um eine „neue Ära der Heirats- und Gebärkultur zu schaffen“, wie die staatliche Global Times berichtet. Vorgesehen sind steuerliche Anreize, Wohnbauförderung und kostenlose oder subventionierte Bildung für ein drittes Kind. Auch „veraltete Bräuche“ wie Mitgiften und Brautpreise sollen bekämpft werden.
Einzelne Lokalregierungen versuchen bereits, sich gegenseitig mit ihren Vorstößen zu überbieten: Die Provinz Guangdong plant etwa die Schaffung von Arbeitsplätzen für Mütter mit kleinen Kindern unter zwölf Jahren. Die nordostchinesische Stadt Shenyang bietet Familien mit einem dritten Kind einen monatlichen Zuschuss von umgerechnet 65 Euro an, bis das Kind drei Jahre alt ist. Die Stadt Hangzhou in der ostchinesischen Provinz Zhejiang möchte Paaren, die ein drittes Kind bekommen, einen einmaligen Zuschuss von umgerechnet 2.600 Euro gewähren, und 650 Euro für Paare mit zwei Kindern.
Einige politische Berater schlagen sogar vor, ledigen Frauen das Einfrieren von Eizellen und In-Vitro-Behandlungen zu ermöglichen – bislang werden solche Verfahren nur verheirateten Frauen gewährt, die Fruchtbarkeitsprobleme nachweisen können. Der bekannte Ökonom Ren Zeping schlug sogar vor, dass Chinas Zentralbank zwei Billionen Yuan (314 Milliarden US-Dollar) drucken solle, um die Geburten von 50 Millionen Babys in den nächsten zehn Jahren zu unterstützen. Nach einer angeregten Debatte wurden Rens offizielle Kanäle auf den Online-Plattformen Weibo und WeChat eingefroren. Seine Ideen seien unpraktisch und ihm mangele es an „gesundem Menschenverstand“, erklärten Rens Kritiker.
„Ein-Kind-Politik hat Einstellung der Chinesen zum Kinderkriegen verändert“
Demografie-Experte Yi Fuxian hält die bisher abgesegneten staatlichen Maßnahmen für Tropfen auf den heißen Stein. „Der Staat verfügt zum einen nicht über genügend Mittel, um die Geburtenrate zu erhöhen, und zum anderen müssten junge Menschen dafür hohe Steuern zahlen, was ihre Möglichkeit, Kinder aufzuziehen, wiederum weiter einschränkt“, erklärt der leitende Demograf im Bereich Geburtshilfe und Gynäkologie an der University of Wisconsin-Madison im Interview mit Table.Media.
China versuche sich in Ermangelung besserer Ideen nun am japanischen Modell, das sich jedoch bereits vor Jahren als „teuer und ineffizient“ erwiesen habe, erklärt Yi. Dort habe sich die Geburtenrate trotz Senkung der Ausbildungskosten, Bereitstellung besserer Betreuungseinrichtungen, Geburts- und Wohnbeihilfen nach kurzer Erhöhung wieder bei 1,34 Geburten pro Frau eingependelt. Und China, „das alt wird, bevor es reich wird“, verfüge noch nicht einmal über die finanziellen Mittel, um „Japans Weg vollständig zu folgen“.
„Die chinesische Regierung ist zu sehr auf schnellen Erfolg erpicht“, glaubt Yi. Das eigentliche Problem liege seiner Meinung nach tiefer und sei psychologischer Natur. „Die Ein-Kind-Politik hat die Einstellung der Chinesen zum Kinderkriegen verändert und die moralischen Werte über Leben und Familie verzerrt. Nur ein Kind oder gar keine Kinder zu haben, ist in China zur gesellschaftlichen Norm geworden.“
Rubriklistenbild: © Sheldon Cooper/IMAGO