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Mehr als 50 Jahre ist Lee Dae-bong ein Gefangener Nordkoreas. Dann wagt er die Flucht in den Süden. Begegnung mit einem, der trotz allem seinen Frieden gefunden hat.
Seoul – Auch nach mehr als 70 Jahren weiß Lee Dae-bong noch genau, welche Nummer man ihm einst um den Hals gehängt hat, bevor er an die Front des Koreakriegs musste. „88356602 stand auf meiner Erkennungsmarke“, sagt der 93 Jahre alte Kriegsveteran bei einem Treffen in Südkoreas Hauptstadt Seoul. Heute trägt er nur noch eine Kopie der Marke bei sich. Das Original ist verloren gegangen, als Lee in nordkoreanische Gefangenschaft geriet.
Mehr als fünf Jahrzehnte sollte er in Nordkorea bleiben, in einem Kohlebergwerk schuften, eine Familie gründen – und schließlich, als alter Mann, in den Süden fliehen. Lee Dae-bong, geboren am 25. Mai 1931, ist einer der letzten Zeitzeugen eines Krieges, der mit einem Waffenstillstand endete, nicht aber mit einem Friedensvertrag. Offiziell befinden sich die beiden Koreas noch immer im Kriegszustand.
Es ist der 2. Juli 1953, Tag 1104 des Krieges, wolkig und regnerisch. Lee war rund ein Jahr zuvor eingezogen worden, jetzt kämpft er als Kommunikationsoffizier auf der Seite des Südens gegen die Truppen von Staatsgründer Kim Il-sung und dessen Verbündete aus China und der Sowjetunion. Der Norden des nach dem Zweiten Weltkrieg geteilten Landes hatte den Süden 1950 angegriffen und fast vollständig überrannt, nur eine Intervention von UN-Truppen rettete die südkoreanische Regierung vor der schnellen Niederlage.
Gefangen in Nordkorea: „Ich war mir sicher, dass sie mich nicht töten würden“
Anfang Juli 1953 bewegt sich die Front kaum mehr, bis zum Waffenstillstand sind es nur noch wenige Wochen, ein blutiger Stellungskrieg fordert täglich neue Todesopfer. Lee und seine Kameraden werden in die Nähe des Grenzgebiets zwischen den beiden koreanischen Staaten geschickt, in der zweiten Schlacht vor Arrowhead Hill stehen sich Soldaten aus dem Süden und aus China gegenüber. Für die südkoreanischen Truppen wird die Schlacht zum Desaster. „Unsere ganze Einheit wurde getötet, ich war der einzige Überlebende“, erzählt Lee.
Als er in Gefangenschaft gerät, ist er zunächst erleichtert. „Ich dachte, ich hätte Glück, dass mich die Chinesen gefangen genommen haben und nicht die Nordkoreaner. Ich war mir sicher, dass sie mich nicht töten würden.“ Schon bald werde er zurückkehren in den Süden, glaubt er. Doch für Lee und andere gefangene Soldaten geht es in die entgegengesetzte Richtung, immer weiter weg von der Grenze und hinein in Feindesland. China und Nordkorea betrachten die meisten Gefangenen als Kriegsverbrecher, die Regeln des Kriegsrechts gelten für sie nicht.
Lee und andere Kriegsgefangene werden zunächst in ein Lager in Nordkoreas Hauptstadt Pjöngjang gebracht, dann weiter Richtung Norden, in die Provinz Nord-Hamgyong, die an China grenzt. Für die nächsten Jahrzehnte wird die entlegene Gegend seine neue Heimat. Zusammen mit rund 500 anderen Gefangenen wird Lee gezwungen, in einem Kohlebergwerk zu schuften. Es sei harte Arbeit gewesen, erinnert er sich. Noch schlimmer aber sei die Angst, ums Leben zu kommen oder sich zu verletzen, sagt er, und zeigt seine linke Hand, an der drei Finger fehlen, die er bei einem Unfall verloren hat.
Zehntausende Soldaten mussten in Nordkorea bleiben
„Die Hälfte der Zeit mussten wir arbeiten, die anderen Hälfte bekamen wir ‚kulturelle Erziehung‘“, erinnert er sich. Es ist die Vorbereitung auf ein dauerhaftes Leben in Nordkorea. Nach drei Jahren wird Lee 1956 in die nordkoreanische Gesellschaft entlassen, im Kohlebergwerk muss er aber weiter schuften. Lee Dae-bong heiratet, bekommt einen Sohn. Ein normales Leben können Menschen wie er in Nordkorea dennoch nicht führen. Im „Songbun“ genannten Klassensystem der Kim-Diktatur stehen die einstigen Kriegsgegner ganz unten. „Nordkorea war nie meine Heimat, und ich war dort immer unruhig und ängstlich, weil ich ein Gefangener war“, sagt Lee.
Rund 37.000 Männer, die einst im Koreakrieg kämpften, seien weltweit noch am Leben, heißt es aus Südkoreas Ministerium für Patrioten und Veteranen. 70.000 weitere seien nach 1953 in Nordkorea verblieben. Die Flucht in den Süden hätten nur wenige geschafft, zwischen 1994 und 2014 sei das nur acht von ihnen gelungen. Wer in Nordkorea zurückgeblieben sei, habe ein Leben der Entbehrung führen müssen – die allermeisten der Gefangenen des Kim-Regimes seien deshalb heute vermutlich tot. Nordkorea hingegen behauptet immer wieder, alle Gefangenen in ihre Heimat überstellt zu haben. Die, die geblieben seien, hätten sich freiwillig für ein Leben „im Schoße der Republik“ entschieden, erklärte vor ein paar Jahren ein Sprecher der Regierung in Pjöngjang.
Als er 76 Jahre alt ist, flieht Lee Dae-bong aus Nordkorea
Als Lee Dae-bong 60 Jahre alt wird, trifft er eine Entscheidung: „Man sagt, dass sogar Tiere zum Sterben in ihre Höhlen zurückkehren“, sagt er. „Auch ich wollte in meinem Heimatort sterben.“ Doch erst Jahre später – Lee ist mittlerweile 76 Jahre alt, seine Frau gestorben, sein Sohn bei einem Unfall im Kohlebergwerk ums Leben gekommen – gelingt ihm die Flucht. Am 20. Juni 2006 überquert er den Grenzfluss Tumen, der Nordkorea von China trennt. Ein Schleuser bringt ihn schließlich in ein südkoreanisches Konsulat, von dort geht es weiter nach Seoul. Zu fliehen sei riskant gewesen, sagt Lee. „Aber lieber wäre ich bei einem Fluchtversuch gestorben, als mein Leben in Nordkorea zu beenden.“
Das Südkorea, in das Lee zurückkehrt, erkennt er kaum wieder. In den 50er-Jahren war die koreanische Halbinsel ein Armenhaus, nach dem Krieg waren beide Teile des geteilten Landes über weite Teile zerstört. Doch während der Süden in den 70er-Jahren einen Wirtschaftsboom erlebt und das Militärregime schließlich von einer lebendigen Demokratie abgelöst wird, bleibt der Norden unter der Herrschaft der Kim-Diktatur bettelarm. „Die Unterschiede zwischen Nord und Süd sind extrem, und es wird nicht leicht sein, sie zu überwinden“, sagt Lee über die Zukunft des geteilten Landes.
Ihm selbst gelingt es ein zweites Mal, sich an ein völlig neues Leben anzupassen. Er bekommt Unterstützung von der Regierung, heiratet sogar noch einmal. Ob er manchmal noch vom Krieg träumt, in dem er als junger Mann kämpfen musste? „Nein, ich träume weder vom Krieg noch von Nordkorea“, sagt Lee Dae-bong. „Jetzt, wo ich zurück in Südkorea bin, habe ich meinen Frieden gefunden.“