Heftige Debatte über US-Lieferung an die Ukraine
Streumunition: juristisch erlaubt, moralisch verboten? Deutschland gehört zu energischsten Gegnern
Die Entscheidung der USA, der Ukraine die umstrittene Streumunition zur Verteidigung im russischen Angriffskrieg zu liefern, wird vor allem in Deutschland heftig debattiert.
Dieser Artikel liegt IPPEN.MEDIA im Zuge einer Kooperation mit dem Security.Table Professional Briefing vor – zuerst veröffentlicht hatte ihn Security.Table am 11. Juli 2023.
Die Entscheidung der USA, der Ukraine die umstrittene Streumunition zur Verteidigung im russischen Angriffskrieg zu liefern, wird vor allem in Deutschland heftig debattiert – nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass die Bundesrepublik zu den energischsten Unterstützern einer Konvention zur Ächtung dieser Waffen gehörte. Die eigenen Bundeswehr-Bestände an Streumunition hat Deutschland schon 2015 vernichtet, lange vor dem dafür vorgesehenen Zeitpunkt. Allerdings sind nicht nur sowohl die USA als auch die Ukraine sowie Russland der Ächtungskonvention nie beigetreten, völkerrechtlich also nicht daran gebunden. Auch der absehbare Einsatzzweck in der Ukraine, so argumentieren die Befürworter, unterscheide sich von der Nutzung in Angriffskriegen.
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Die Munition, die die USA zur Weitergabe an die Ukraine vorgesehen haben, ist als sogenannte Dual Purpose-Munition für den Einsatz sowohl gegen gegnerische Soldaten als auch gegen – geschützte – Fahrzeuge konzipiert. Die 155-Millimeter-Artilleriegranaten, die von Geschützen mit diesem Standardkaliber der Nato verschossen werden, öffnen sich in vorgegebener Höhe über einem Ziel und verstreuen 72 einzelne Sprengsätze (Bomblets) über eine Strecke von mehreren hundert Metern. Ein Schuss mit dieser Munition, erläutert der den Streitkräften nahestehende britische Think Tank Royal United Services Institute (RUSI), könne damit mehr gegnerische, konkret also russische Soldaten treffen als selbst ein direkter Treffer mit herkömmlicher Spreng-Brand-Munition.
Russland verwendet zwei neue Typen von Streumunition
Die wesentliche Kritik an dieser Art von Munition und auch der Hauptgrund für die Ächtung durch mehr als 100 Staaten ist die Gefahr, die auch lange nach einer Auseinandersetzung von den einzelnen Bomblets für Unbeteiligte ausgeht. In zahlreichen Ländern weltweit (s. Karte) sind ganze Landstriche mit nicht explodierten Sprengsätzen verseucht, die Jahre später Zivilisten verletzen oder töten. Entscheidend dabei ist die Fehlerquote, die je nach Munitionstyp bis zu 40 Prozent betragen kann. Als besonders unsicher gilt dabei nach westlichen Angaben russische Munition, wie sie auch gegen die Ukraine eingesetzt wird. Im Konflikt seit 2014 haben die Ukraine und Russland Streumunition verwendet, Russland dabei sogar zwei neu entwickelte Typen, wie der aktuelle Bericht der Organisation gegen Streumunition dokumentiert. Deren Fehlerquote ist unbekannt. Die USA geben für die jetzt zugesagten Granaten eine Quote von 2,35 Prozent an; überprüfen lässt sich das nicht.
Während sowohl die Vereinten Nationen, das Rote Kreuz oder Menschenrechtsorganisationen davor warnen, mit der Lieferung an die Ukraine werde die Nutzung von Streumunition praktisch legitimiert und die weltweite Ächtung untergraben, verweisen Befürworter wie die Wissenschaftler des RUSI auf die Einsatzgrundsätze der Ukraine: Im Gegensatz zu Russland, das Streumunition gezielt gegen zivile Wohngebiete verwende, werde die Ukraine ihre Geschosse gegen russische Stellungen einsetzen, die bereits jetzt von unmarkierten Minenfeldern und russischen Blindgängern umgeben seien. Die Ukraine habe zudem zugesichert, den Einsatz von Streumunition zu dokumentieren – und ähnlich wie bei Minenfeldern betroffene Flächen zu sichern und zu räumen. Es gebe keine Hinweise darauf, dass die Regierung in Kiew den Schutz ihrer Bürger vernachlässige.
Streumunition: Deutschlands moralischer Anspruch an sich selbst
Die in Deutschland parallel zu einer moralischen geführte rechtliche Debatte ist nach Ansicht von Juristen an dieser Stelle nicht von Belang. Neben der Tatsache, dass die USA wie die Ukraine nicht Vertragsstaaten der Konvention zur Ächtung von Streumunition seien, sei für eine juristische Bewertung der Schutz der Zivilbevölkerung maßgeblich, erläutert der Wiener Völkerrechtler Ralph Janik: „Das ist eines der zwei Kardinalprinzipien des humanitären Völkerrechts. Zivilisten dürfen niemals gezielt angegriffen werden. Wenn sie indirekt von Angriffen betroffen sind, ist immer noch die Verhältnismäßigkeit zum militärischen Vorteil zu wahren. Übrigens sind nicht nur die Zivilisten des Gegners, sondern auch die ‚eigenen‘ geschützt. Die Ukraine hat aber bereits angekündigt, Streumunition nur dort einzusetzen, wo sich ausschließlich russische Soldaten befinden.“
Auch wenn die Bundesrepublik unabhängig von ihrer Position keinen Einfluss darauf hat, ob diese Munition geliefert wird, gilt in dieser Debatte auch ein moralischer Anspruch Deutschlands an sich selbst. Zur Vernichtung der letzten Bundeswehr-Streumunition 2015 erklärte der damalige Bundesaußenminister und heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier: „Unser Ziel ist und bleibt ein weltweites Verbot von Streumunition.“ Aktuell sieht Steinmeier aber keine Möglichkeit für die Bundesrepublik, aktiv Position gegen die US-Entscheidung zu beziehen. Die Bundesrepublik könne den USA nicht in den Arm fallen, sagte er im ZDF-Sommerinterview. tw