„Wettrennen gegen die Zeit“
Lockdown-Chaos im abgeriegelten Shanghai – doch Kinder dürfen ab sofort bei ihren Eltern bleiben
Die Stimmung im abgeriegelten Shanghai wird immer schlechter. Bewohner fürchten die Isolation, in der Kinder von ihren Eltern getrennt werden. Nun dürfen immerhin Kinder bei ihren Eltern bleiben.
Update vom 5. März 2022, 18.40 Uhr: Eltern und Kinder dürfen in Shanghai ab sofort gemeinsam in den Quarantäne-Einrichtungen der Stadt isoliert werden. Das teilten Behördenvertreter an der größten Quarantäne-Station der Stadt am Dienstagabend mit. Dort sind positiv Getestete ohne Beschwerden oder mit milden Symptomen untergebracht. Mehrere Krankenhäuser haben demnach inzwischen gemeinsame Bettengruppen für Kinder und Eltern geschaffen.
Die erzwungene Trennung positiv getesteter Kinder von ihren Eltern hatte in der Wirtschaftsmetropole am Montag für einen Aufschrei unter Familien gesorgt. Die Behörden reagierten offenbar prompt auf die Klagen. Der größte Teil der Eltern infizierter Kinder ist ohnehin selbst positiv getestet. Anders war es bisher eben dann, wenn die Eltern negativ getestet wurden. Nun dürfen diese Eltern gemeinsam mit ihren Kindern in die Isolierstationen, nachdem sie über die Risiken aufgeklärt werden.
Die hochansteckende Omikron-Variante stellt Chinas Null-Covid-Politik vor immer größere Herausforderungen. Dennoch hält die Regierung bislang unbeirrt an diesem Weg fest. Ob das überhaupt möglich ist, wird sich auch in Shanghai zeigen.
Shanghai: Lockdown auf unbestimmte Zeit verlängert
Erstmeldung vom 5. März 2022: Shanghai/München – Die Hoffnungen in Shanghai* auf ein Ende des Zwei-Phasen-Lockdowns haben sich zerschlagen. Am Dienstag trat das Worst-Case-Szenario ein: Die gesamte Stadt und damit das wirtschaftliche Herz des Landes bleibt im Lockdown. Die Ankündigung ließ bereits am Vormittag erste Lebensmittel-Lieferdienste unter dem Ansturm einknicken. Die im chinesischen Alltag so allgegenwärtigen Liefer-Apps funktionieren nach Berichten von Anwohnern nicht mehr; Point-to-Point-Sammelbestellungen größerer Supermärkte, darunter auch Aldi, brachen zusammen.
Es entstehe bereits ein Schwarzmarkt, berichtet eine Anwohnerin. Menschen in Wohnquartieren tun sich dabei zusammen für Sammelbestellungen, die mit riesigem Aufpreis geliefert werden. Vor allem Frisches ist Mangelware. Liefer-Websites boten etwa kleine Portionen Beeren oder Trauben für umgerechnet rund 14 Euro an. Auch die Behörden liefern Nahrungsmittel, doch der Service funktioniert offenbar nicht lückenlos. Die Regierung räumte ein, dass bei den Lieferungen Hürden „auf den letzten 100 Metern“ beseitigt werden müssten. Und Wanderarbeiter aus anderen Provinzen werden nach Augenzeugenberichten gar nicht erst berücksichtigt.
Wut in Shanghai: Kinder in Isolierzentren von Familien getrennt
Am Montag hatten bereits Berichte für Aufsehen gesorgt, dass die Behörden in den Isoliereinrichtungen für positiv Getestete Kinder von ihren Familien separiert hatten. Denn nach der strikten Null-Covid Politik Chinas* muss jeder Infizierte von nicht infizierten Menschen isoliert werden. Behördenvertreter räumten öffentlich ein, sogar Babys und Kleinkinder nach positiven Corona-Tests von ihren Eltern getrennt* zu haben. „Wenn das Kind jünger als sieben Jahre ist, werden diese Kinder in einem staatlichen Gesundheitszentrum behandelt“, sagte Wu Qianyu von der städtischen Gesundheitskommission. Ältere Kinder oder Teenager werden demnach allein in die großen Quarantänezentren geschickt. Bilder von verzweifelt weinenden Kleinkindern in Babybetten auf der Isolierstation zirkulierten auf sozialen Medien. Viele Eltern beschwerten sich in sozialen Netzwerken – und haben zugleich vor nichts mehr Angst, als dass ihre Kleinen bei den laufenden Massentests positiv werden.
Ebenso groß ist das Grauen vieler vor den zentralen Quarantäne-Einrichtungen etwa in Hotels, sowie Turn- und Messehallen. In letzteren hausen bis zu 15.000 Menschen, aufgeteilt in Waben mit halbhohen Wänden und je zwei Betten, ohne Dusche, ohne Ruhe, ohne Dunkelheit in der Nacht. Nach Angaben lokaler Broschüren stellen die Einrichtungen eine Wanne, ein Handtuch, eine Zahnbürste, Masken und Desinfektionsmittel. Es gibt Wasser, drei Mahlzeiten am Tag und medizinische Betreuung. An den Betten hat jeder eine Steckdose und einen Nachttisch mit kleiner Lampe. Empfohlen wird das Mitbringen von Ohrenstöpseln und Augenmasken zum Schlafen, warmer Kleidung und Decken, Ladekabel, Toilettenpapier sowie eigener Trinkflaschen.
Nicht jeder ist allerdings im gleichen Umfang nervös. Denn letztlich haben die Maßnahmen bereits alle sozialen Kontakte auf Null reduziert. „Solange die Versorgung mit Lebensmitteln funktioniert, steigt zwar mit jedem Tag Lockdown die Unzufriedenheit, aber eben nicht die Unruhe“, sagt etwa Christian Sommer, Geschäftsführer vom German Centre in Shanghai, das sich um kleinere Unternehmen aus Deutschland vor Ort kümmert. „Letztlich haben alle aufgrund der Zahlen mit der Verlängerung des Lockdowns gerechnet“, so Sommer zu Merkur.de. „Allerdings scheinen die Quarantäne-Einrichtungen voll, so dass die Regierung jetzt für die Isolierung von Shanghaier Bürgern auch Hotels außerhalb Shanghais übernimmt.“ Sommer hofft auf ein Ende des Lockdowns an Ostern.
Shanghai: Versuche einen Lockdown zu verhindern, sind gescheitert
Dabei hatten die Beamten in Shanghai zunächst alles getan, um einen Lockdown zu verhindern* – und zugleich auch eine Durchseuchung der Stadt. Sie riegelten einzelne Wohnviertel für jeweils 48 Stunden ab und schickten positiv Getestete in eilig eingerichtete Quarantänestationen. Das für Chinas Verhältnisse lockere Vorgehen aber scheiterte. Das darauf folgende Chaos schockierte Anwohner und Experten, von denen viele noch vor zehn Tagen betont haben, es spreche alles gegen einen Lockdown. Niemand konnte es sich vorstellen. Denn Shanghai ist die Stadt, deren Beamte als die kompetentesten im ganzen Land gelten. Auch die Krankenhäuser sind überlastet, bereits vergangene Woche warnten Staatsmedien vor dem „Zusammenbruch“ der Versorgung.
Nach den ursprünglichen Plänen hatte der Lockdown im Ostteil der Stadt bereits am vergangenen Freitag enden sollen*, der im Westen am Dienstag. Doch Shanghai meldete am Dienstag 268 Erkrankungen und mehr als 13 000 Ansteckungen ohne Symptome – und damit erstmals mehr als 10 000 Neuinfektionen an einem Tag. Schwer betroffen ist auch die nordostchinesische Provinz Jilin, wo ebenfalls in mehreren Metropolen Ausgangssperren herrschen und millionenfach getestet wird. Insgesamt gab es in ganz China 16.000 Neuinfektionen, davon mehr als 15.000 asymptomatische Fälle.
Shanghaier Vize-Parteichef: „Wettrennen gegen die Zeit“
Unter Hinweis auf den rasanten Anstieg der Infektionen sprach der lokale Vize-Parteichef Gu Honghui am Dienstag vor Journalisten von einem „Wettrennen gegen die Zeit“. Erst müssten die Massentests vom Montag, ihre Überprüfung sowie der Transport der Infizierten in die Quarantäne abgeschlossen werden. Erst dann könnten die Behörden über die weitere Richtung der Kontrollmaßnahmen entscheiden. Man arbeite unter Hochdruck, um die Lage zu analysieren, so Gu. „Die Lage ist sehr akut.“ Auch räumte Gu Probleme bei der medizinischen Versorgung für chronisch Kranke oder auch Schwangere ein. Man arbeite daran, die Lage zu verbessern.
Die Stadt ist zum Testlabor geworden, ob und wie Chinas Null-Covid-Politik Omikron überhaupt noch standhalten kann. Nach Presseberichten sind rund 40.000 medizinische Kräfte aus anderen Regionen nach Shanghai verlegt worden, darunter auch 2000 Militärärzte. Es ist die größte Mobilisierung von medizinischem Personal in China seit dem Ausbruch der Pandemie in der Metropole Wuhan, wo das Virus Ende 2019 erstmals entdeckt worden war und dann die Krankenhäuser überlastete.
Hunderte von Flügen auf den beiden Flughäfen Pudong und Hongqiao wurden gestrichen, da Reisende und Bodenpersonal die Flughäfen nicht erreichen konnten. Auch viele Frachtmaschinen konnten nicht starten. Fabriken können nur weiterproduzieren, wenn die Mitarbeitenden auf dem Gelände campieren. Eine Umfrage der Amerikanischen Handelskammer in Shanghai ergab, dass 99 Prozent der US-Firmen von dem Ausbruch in der Metropole betroffen sind. Auch VW musste die Produktion herunterfahren; generell behindert die aktuelle Omikron-Welle in China mitsamt der harten Maßnahmen im ganzen Land die Lieferketten* vieler Industriezweige. Die Wirtschaft fordert daher mehr Transparenz und Planbarkeit. (ck/mit Material von dpa) *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.
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