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„Bedrohung durch Putin enorm“

Schweden rüstet nach NATO-Beitritt massiv auf – und zahlt hohen Preis

Schweden hat seine Neutralitäts-Politik geändert und schickt Soldaten ins Baltikum. Beim Thema Atomwaffen lässt sich die Regierung eine Hintertür offen.

Nur einmal kriselte es im Kalten Krieg so richtig zwischen Russland und Schweden: Als 1952 sowjetische Jagdflieger zwei Maschinen der schwedischen Luftwaffe über der Ostsee abschossen und damit acht Besatzungsmitglieder töteten, wäre es beinahe zum Staatseklat gekommen. Doch man einigte sich auf Stillschweigen, erst Jahrzehnte später wurde die sogenannte Catalina-Affäre öffentlich. Der Vorfall zeigt eindrücklich: Neutralität war lange Zeit oberstes Gebot in Schweden. Bis jetzt. Seit zwei Jahren rüstet das Land massiv auf und entsendet Soldaten. Und zahlt dafür einen hohen Preis.

Nach Putin-Angriff auf Ukraine: Schweden rüstet als NATO-Mitglied auf

„Neutralität beziehungsweise Bündnisfreiheit gehörten in Schweden seit jeher dazu, man kannte nichts anderes“, sagt Tobias Etzold. Er forscht am Norwegian Institute of International Affairs (Nupi) unter anderem zu Sicherheitspolitik in Nordeuropa. Selbst nach 2014, als Russland die ukrainische Krim annektierte, habe man in Schweden nicht über einen NATO-Beitritt nachgedacht. Multilateraler Dialog, Vermittlung und Abrüstung, so lautete das Credo: Block-Freiheit im Frieden und Neutralität im Krieg.

Tobias Etzold von der norwegischen Denkfabrik NUPI in Oslo.

Das änderte sich schlagartig mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine 2022. Nicht nur Norwegen änderte seine Politik Russland gegenüber, die lange auf gute Beziehungen ausgerichtet war, grundlegend. Auch Schweden gab seine Neutralität zwischen West und Ost auf, ist seit März 2024 NATO-Mitglied, rüstet auf und entsendet Soldaten: Bis 2025 soll eine Brigade von bis zu 1000 Mann als Teil der multinationalen NATO Forward Land Force in Lettland stationiert werden. Und erst kürzlich gab die Regierung Pläne bekannt, Soldaten nach Finnland zu schicken und dort eine NATO-Vorreiterrolle einnehmen zu wollen. Derweil werden schwedische F17-Kampfjets an der NATO-Luftüberwachungsmission über den baltischen Ländern teilnehmen, und die Marine steuert Schiffe zu den ständigen Seestreitkräften des Verteidigungsbündnisses bei.

Das passt kaum zum jahrzehntelang gepflegten Weg, was allmählich zum Problem wird. Denn die schwedische Regierung musste sich auf harte Kompromisse einlassen, um NATO-Mitglied werden zu können. Die Türkei und Ungarn hatten sich jahrelang gegen den Beitritt gesperrt. Ungarns Präsident Viktor Orbán missbilligte die schwedische Kritik an politischen Entwicklungen in seinem Land, und dem türkischen Präsident Recep Tayyip Erdogan war es ein Dorn im Auge, dass Schweden kurdische Organisationen unterstützte und ein Waffenembargo gegen die Türkei verhängt hatte.

Wegen NATO-Beitritt musste Schweden Kompromisse mit Erdogan eingehen

Die schwedische Regierung lenkte ein, hob das Embargo auf und versprach, türkische Auslieferungsanträge für kurdische Terrorverdächtige umgehend zu prüfen – zum Missfallen unter anderem von Menschenrechtsorganisationen in Schweden. „Viele Kritiker sagen: Als Preis für den NATO-Beitritt wurden typische schwedische Werte preisgegeben“, sagt Tobias Etzold. „Es gab keine tiefergehende Pro-Contra-Debatte, die alle mitgezogen hätte.“

Industriepark Raufoss: Wo Spezialmunition für die Ukraine und Autoteile produziert werden

Ein zugefrorener See in Norwegen nördlich von Oslo
Raufoss liegt zwischen dichten Wäldern und großen Seen – gut 130 Kilometer nördlich der norwegischen Hauptstadt Oslo.  © Peter Sieben
Ein rotes Haus mit Holzfassade in der Dämmerung im Schnee
Bunte Häuser mit Holzfassaden säumen die Straßen. © Peter Sieben
Ein Straßenschild in Raufoss in Norwegen und ein Haus im Schnee
„Verteidigungsausrüstung“ steht auf dem Schild über dem Logo von Rüstungsproduzent Nammo. Wer durchs idyllische Städtchen Raufoss schlendert, rechnet nicht damit, dass direkt neben an ein bedeutender Industriepark liegt, in dem auch Munition für die Ukraine produziert wird.  © Peter Sieben
Øivind Hansebråten, CEO vom Raufoss Industriepark in Norwegen
Øivind Hansebråten ist CEO vom Raufoss Industriepark, einem der bedeutensten in Norwegen. Im Vergleich zu deutschen Parks ist er recht überschaubar. „Ich weiß, in Deutschland ist alles größer, aber für uns ist das schon ganz gut“, sagt Øivind und grinst. Dafür geht es hier recht familiär zu. © Peter Sieben
Emma Østerbø im Catapult Centre in Raufoss
Know-how wird im Industriepark geteilt: Emma Østerbø ist General Manager beim Raufoss Katapult Center. Hier können Start-Ups Prototypen testen.  © Peter Sieben
Gebäude von Benteler im Raufoss Industriepark in Norwegen
Im Raufoss Industriepark gibt es auch ein großes deutsches Unternehmen: der Autozulieferer Benteler. Dabei sind die Löhne hier höher als in Deutschland. Aber: Das Unternehmen nutzt hier auch norwegisches Know-How, um Automationsmechanismen zu testen.  © Peter Sieben
Mitarbeiter von Benteler in Raufoss in Norwegen
In den Produktionshallen von Benteler arbeiten pro Schicht nur zwei bis drei Menschen – das meiste läuft automatisiert. Das hat zwei Gründe: Fachkräfte sind Mangelware, im riesigen Norwegen leben vergleichsweise wenige Menschen. Und: Die Löhne für Fachkräfte sind hoch. Viele Unternehmen setzen auf Automation.  © Peter Sieben
Das moderne Verwaltungsgebäude von Nammo in Raufoss in Norwegen
Das moderne Verwaltungsgebäude von Nammo: Der Rüstungskonzern und Produzent von Spezialmunition gehört zu den ganz großen und zentralen Unternehmen im Industriepark.  © Peter Sieben
Eine Backstein-Werkshalle von Nammo im Raufoss-Industriepark in Norwegen
Eine der Werkshallen von Nammo: Im Raufoss Industriepark gibt es zahlreiche renovierte historische Gebäude.  © Peter Sieben
Nammo-Munitionsfabrik in Raufoss in Norwegen
Fotos dürfen in der Munitionsfabrik nur an einer einzigen Stelle gemacht werden. Damit keine sensiblen Informationen nach außen dringen, gelten strenge Sicherheitsregeln.  © Peter Sieben
Ein Arbeiter an einer Maschine in der Munitionsfabrik von Nammo in Raufoss in Norwegen
Präzision hat eine hohe Priorität: Mithilfe von Robotern und Computertechnik werden die Projektile gefertigt.  © Peter Sieben
Thorstein Korsvold (links), Pressesprecher von Nammo, im Gespräch mit Redakteur Peter Sieben.
Thorstein Korsvold (links), Pressesprecher von Nammo, im Gespräch mit Redakteur Peter Sieben.  © Ippen.Media
Thorstein Korsvold, Pressesprecher von Nammo, stemmt eine Stahlhülse
Thorstein Korsvold stemmt eine der fertigen Hülsen, die zu Projektilen weiterverarbeitet werden: „Wiegt locker 30 bis 40 Kilo.“ Das meiste, das sie hier produzieren, geht an die ukrainischen Streitkräfte. So werden hier Rohlinge für M72-Panzerabwehrmunition gefertigt, die von ukrainischen Soldaten massenhaft verschossen werden. „Wir sind stolz auf unsere Produktion“, sagt Thorstein. „Aber es hat alles zwei Seiten. Wenn unser Geschäft besonders gut läuft, hat das düstere Gründe.“  © Peter Sieben

Die Zustimmung in der Bevölkerung zum NATO-Beitritt ist in Schweden bei weitem nicht so groß wie etwa in Finnland, das 2023 Bündnis-Mitglied geworden war. Dort begrüßen 80 bis 90 Prozent der Menschen die Entscheidung. In Schweden wächst die Zustimmung zwar, aber wesentlich langsamer, laut Umfragen liegt sie bei um die 65 Prozent. Aber: „Die Bedrohung durch Putin wird als so enorm wahrgenommen, dass die Regierung im Grunde bereit war, alles für den NATO-Beitritt zu tun.“ Das habe zu innenpolitischen Spannungen und Meinungsverschiedenheiten in der Bevölkerung geführt. „Die Friedensbewegung in Schweden hat eine recht starke Tradition und ist in der Debatte ein echter Faktor“, erklärt Experte Etzold.

Atomwaffen in Schweden: „Regierung lässt sich Tür offen“

Diskutiert wird auch über eine mögliche Atomwaffenstationierung in Schweden. Die Regierung spricht sich zwar eher dagegen aus, aber anders als in Norwegen und Dänemark gibt es kein explizites Nein. „Die Regierung will sich offenbar noch Türen offen lassen. Wenngleich die Mehrheit der Bevölkerung dagegen ist“, sagt Etzold.  

Rubriklistenbild: © Heiko Junge/dpa

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