Erklärung der baltischen Diplomaten
„Deportation, Folter, Entführung und kulturelle Auslöschung“ – Balten in Angst vor Russland
Die Balten sehen sich bald einkassiert von einem Russland wie zu Zeiten Stalins. Die Nato beschwichtigt: Jeder solle erstmal für sich selbst sorgen.
Riga – Die Wurzel allen heutigen Übels durch Wladimir Putin datierte Hannes Adomeit auf den 23. August 1939: An diesem Tag „war der Grundstein für die Beseitigung ihrer Souveränität gelegt“, schrieb der ehemalige Professor für Osteuropastudien für die Bundeszentrale für politische Bildung. „Unter massivem Druck und Gewaltandrohung wurden Estland, Lettland und Litauen 1940 von der Sowjetunion annektiert. Nach damaliger sowjetischer und heutiger russischer Lesart ,baten‘ sie Moskau um die Entsendung und Stationierung von Truppen zu ihrem Schutz und traten der UdSSR ,freiwillig‘ bei.“
Jetzt gehören die baltischen Staaten seit 20 Jahren zum Nordatlantischen Verteidigungsbündnis, und die Angst ist ins Baltikum zurückgekehrt. „Estland, Lettland und Litauen genießen seit ihrem Nato-Beitritt eine ,starke kollektive Sicherheit‘, waren aber noch nie ,einer gewaltigeren Bedrohung ausgesetzt‘“, schreibt die britische Sun über entsprechende Äußerungen baltischer Diplomaten. Der Telegraph findet noch drastischere Worte: Die Nato müsse vorbereitet sein, dass Russland einen „existenziellen“ Krieg gegen die baltischen Staaten beginne, der, nach den Formulierungen der Offiziellen, maskiert sei von einem „Blizzard an Desinformation“. Die Diplomaten stützen sich auf einen Kreml-Bericht von Anfang dieses Jahres, der angeblich einen Zehn-Punkte-Plan Putins zum Angriff auf das Baltikum beinhaltet und damit zum vermeintlichen Beginn des Dritten Weltkrieges – die Sun hatte beispielsweise darüber berichtet.
Britische Medien orakeln: Im Oktober marschiert Russland Richtung Baltikum
Demnach solle im Juni dieses Jahres der Angriff auf den Westen beginnen – Russland hätte dafür dann zusätzliche 200.000 Mann mobilisiert und aufgrund der schwankenden Unterstützung aus dem Westen eine weitere Offensive gegen die Ukraine gestartet. Laut der Sun würde Putin dann den Erfolgen in der Ukraine einen „zunächst verdeckten und später offenen Angriff auf den Westen mithilfe einer Welle von Cyber- und Hybridkriegsstrategien“ starten, so die Sun. „Diese Angriffe führen zu sich ausbreitenden Krisen und tragen dazu bei, russische ethnische Minderheiten dazu anzustacheln, Konflikte und Chaos in den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen zu verursachen.“ Im September sollen dann rund 50.000 Kräfte an der Grenze zu Polen und Litauen stationiert werden, im Oktober dann Truppen und Mittelstrecken-Raketen in Kaliningrad, um an die Suwalki-Lücke heranzurücken.
Die Sun hält den Aufmarschplan von Wladimir Putin für realistisch – und für eine Finte: „In dem durchgesickerten Bericht heißt es jedoch, dass die Truppenbewegung ein bewusster Versuch sei, den Westen zu täuschen und einen bevorstehenden Angriff auf die Nato anzudeuten.“ Diesen Angriff via Suwalki-Lücke sieht die Sun für Anfang Oktober dieses Jahres voraus. Demnach ziele Putin auf das Baltikum, um die Nato zu treffen.
„Sollte sich Russland in der Ukraine durchsetzen und 17 bis 18 Prozent des ukrainischen Staatsterritoriums dauerhaft besetzt halten: Dann halte ich es für nicht unwahrscheinlich, dass es auf längere Sicht den russischen Versuch geben wird, einen oder mehrere baltische Staaten konventionell anzugreifen.“
Der Politikwissenschaftler Fabian Hoffmann sieht die Sache gegenüber der Tagesschau glasklar: Er rechnet mit einem Angriff Russlands auf die Nato binnen zwei bis drei Jahren nach Beendigung des Ukraine-Krieges. Da Wladimir Putins Armee dem Westen konventionell unterlegen sei, bliebe ihm nur ein raketengestützter Überfall von der Enklave Kaliningrad aus gegen Teile des Baltikums. Darauf müsse sich die Nato einstellen. Andere Wissenschaftler halten diesen Pessimismus für überzogen – allerdings, so beispielsweise der deutsche Politikwissenschaftler Carlo Masala in einem Beitrag auf X (vormals Twitter): Man solle sich lieber auf das Worst-Case-Szenario vorbereiten, als zu hoffen, „das werden die schon nicht machen“, wie er schreibt. Putins Kalkül wäre, ein minimalinvasiver Eingriff in das Nato-Territorium, um möglichst sicherzugehen, dass der Nato der Verlust von Teilen des Baltikums als zu gering erscheint, um ihrerseits konventionelle oder gar nukleare Vergeltung zu üben.
Wissenschaft vermutet: Putin rechnet damit, dass Nato keine nukleare Eskalation riskiert
Nach Ansicht des Militärexperten Carlo Masala würde ein militärischer Erfolg Russlands in der Ukraine die Bedrohung für das Baltikum allerdings erhöhen, wie er gegenüber der Funke Mediengruppe geäußert hat. „Sollte sich Russland in der Ukraine durchsetzen und 17 bis 18 Prozent des ukrainischen Staatsterritoriums dauerhaft besetzt halten: Dann halte ich es für nicht unwahrscheinlich, dass es auf längere Sicht den russischen Versuch geben wird, einen oder mehrere baltische Staaten konventionell anzugreifen. Seiner Meinung nach sei die Lehre, die Russland gezogen habe, diejenige, dass kein Land massiv gegen einen Nuklearwaffenstaat vorgehen wolle. Moskau könnte sich die Frage stellen, ob die Nato bereit wäre, gegebenenfalls eine nukleare Eskalation zu riskieren, wenn Russland konventionell ein relativ kleines Territorium angreife; auch wenn das ein Nato-Partner sei.
Der estnische Botschafter Viljar Lubi, die lettische Botschafterin Ivita Burmistre und die litauische Botschafterin Lina Zigmantaite äußerten ihre Befürchtungen zum 20. Jahrestag des Nato-Beitritts ihrer Länder. In Anspielung auf Offizielle, die das von Russland ausgehende Risiko herunterspielen, sagten sie dem Telegraph : „Unsere Warnungen vor der latenten und wachsenden Bedrohung aus dem Osten wurden in einigen alliierten Hauptstädten zu leichtfertig abgetan.“ Diese Klage deckt sich mit der Einschätzung, die auch Historiker Adomeit bereits veröffentlicht hatte: Die Nato-Mitgliedschaft der drei Staaten und ihre Rolle in der atlantischen Allianz sei bis heute ein wunder Punkt in Moskau. Es hatte sich seiner Ansicht nach bemüht, eine „rote Linie“ entlang der Grenzen der Sowjetunion zu ziehen, welche die Nato im Zuge ihrer Osterweiterung nicht hätte überschreiten dürfen; dies allerdings vergeblich.
Putins in Erklärungsnot: Das Baltikum hat Russland an Wohlstand übertrumpft
Militärhistoriker Sönke Neitzel fasst Russlands Gründe für die sublime Aggression gegenüber dem Baltikum allerdings weiter als allein im Militärischen liegend, wie er auf phönix geäußert hat: „Litauen ist die erste sowjetische Teilrepublik, die sich für unabhängig erklärt, im Januar 1991, also noch vor Estland, vor Lettland, vor der Ukraine. Der Wunsch nach Freiheit ist durch all diese wechselvollen Geschichten im 20. Jahrhundert nicht erstickt worden.“ Eine These, die gestützt wird durch den österreichischen Politikwissenschaftler Lukas Bittner auf dem Meinungsportal Pragmaticus – Bittner sieht den Grund in der unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklung, die den russischen Diktator in immer größere Erklärungsnöte gebrach hätte: „Denn die ehemaligen baltischen Sowjetrepubliken und osteuropäischen Staaten hatten im Vergleich zu Russland einen unglaublichen Wohlstandszuwachs zu verzeichnen. Dieser Wohlstandstransfer der ehemaligen Ostblock-Staaten begründete sich nicht durch deren Nato-Mitgliedschaft, sondern durch den Wohlstandstransfer und den Binnenmarkt innerhalb der Europäischen Union.“
„Ich weise allerdings darauf hin, dass auch Cyberaktivitäten aus einem anderen Land ausreichen, um Artikel 5 auszulösen. Artikel 5 kann nicht nur im Falle eines direkten Angriffs ausgelöst werden.“
Bittner zufolge führte das zur Ausformung des „Feindbildes Westen, mit aus russischer Sicht degenerativen Normen und Werten“. Und, wie der Osteuropa-Forscher Adomeit weiterführt: Interpretationen in Moskau zufolge, habe die Nato-Mitgliedschaft Russland unfreundlich oder feindlich gesonnenen Kräften in Tallinn, Riga und Wilna Auftrieb gegeben. „Vor allem wurde die Unterstützung der baltischen Staaten für die Politik der neokonservativen Regierung Washingtons in Ostmitteleuropa Zielscheibe russischer Angriffe. Das betraf unter anderem die Pläne der Regierung unter Präsident Bush, Komponenten der nationalen amerikanischen Raketenabwehr in Polen und Tschechien zu stationieren und einer Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens in der Nato den Weg zu ebnen.“
Die Angst der Balten begann Putin insofern schon 2021 zu schüren, wie Zeit Online berichtet: Im Streit um Truppenbewegungen an der russisch-ukrainischen Grenze habe Russlands Präsident Wladimir Putin die Nato davor gewarnt, ihren Einfluss nach Osten auszubauen. Er werde in Verhandlungen mit den USA und ihren Verbündeten auf konkrete Vereinbarungen in diesem Sinne bestehen, sagte Putin. Russland wolle „eine Nato-Osterweiterung und Stationierung von Waffensystemen in unmittelbarer Nähe des russischen Hoheitsgebiets verhindern“. Der Politikwissenschaftler Kai-Olaf Lang hatte bereits zum Beitritt der Balten in die EU 2003 von einer Bringschuld Putins gesprochen in einem Aufsatz für die Friedrich-Ebert-Stiftung: „Für einen Durchbruch in den baltisch-russischen Beziehungen fehlen noch wichtige Schritte. Moskau sollte davon Abstand nehmen, die baltischen Staaten als Teil einer besonderen Einflusssphäre zu betrachten.“
Balten in Angst: Sie fürchten ein kulturelle Auslöschung wie zu Stalins Zeiten
Allerdings war Lang offenbar zu optimistisch: „Möglich ist, dass die Nato-Mitgliedschaft der baltischen Staaten zu einer Versachlichung der gegenseitigen Beziehungen beiträgt“, mutmaßte er damals. Das Gegenteil ist eingetreten, wie jetzt die Diplomaten geäußert und an die Zeiten Russlands unter Stalins Diktatur erinnert haben – Ihre gemeinsame Erklärung prophezeit für das Baltikum, dass das, was die Ukraine erlebt – „Deportation, Folter, Entführung von Kindern und kulturelle Auslöschung“ – die „dunkelsten Erinnerungen und Ängste“ an die sowjetische Besatzung unter Stalin zurückgebracht hat. Allerdings widerspricht dem die Nato-Spitze. Vehement.
Wladimir Putin: Der Aufstieg von Russlands Machthabern in Bildern




„Es gibt keine Anzeichen dafür, dass Russland einen Angriff auf einen Nato-Mitgliedsstaat plant“, sagte Admiral Rob Bauer, Vorsitzender des Nato-Militärausschusses, gegenüber Reportern in Riga, wie die Baltic Times berichtet. „Ich glaube nicht, dass es eine direkte Bedrohung gibt. Das Problem ist, dass Russlands Ambitionen über die Ukraine hinausgehen. Wir wissen das, also muss das Bündnis als Ganzes mehr tun.“
Bauer versicherte, das Bündnis habe Russland inzwischen als konkrete Bedrohung begriffen und seine Bemühungen für kollektive Verteidigung neu justiert, sehe aber keinen breit angelegten Angriff voraus, sondern zunächst höchstens Störungen durch Separatisten. Auf die Frage von Journalisten, ob die Nato als Bedrohung ansehen würde, wenn etwas Ähnliches in einem der baltischen Staaten passieren würde, antwortete Bauer, dass gemäß Artikel 3 des Nato-Vertrags jeder Staat in der Lage sein müsse, sich selbst zu verteidigen. Bauer: „Wenn so etwas in einem Land passieren würde, dann liegt es in der Verantwortung dieses Landes, für seine Sicherheit zu sorgen.“ Das gelte auch für hybride Bedrohungen; zumindest anfangs. „Ich weise allerdings darauf hin, dass auch Cyberaktivitäten aus einem anderen Land ausreichen, um Artikel 5 auszulösen. Artikel 5 kann nicht nur im Falle eines direkten Angriffs ausgelöst werden“, betonte Bauer. (hz)