Foreign Policy
Wie ein „ewiger Ukraine-Krieg“ Putin dient: Russland fällt in Totalitarismus zurück
Zum Ukraine-Krieg schweigen reicht nicht mehr: Russland fordert von seinen Bürgern die Gleichschaltung mit dem Staat. Selbst Befürworter des Kriegs sind im Visier Putins.
- Russland fällt in seine totalitäre Vergangenheit zurück.
- Wladimir Putin fordert zusehends die totale Gleichschaltung des Einzelnen mit dem Staat.
- Russlands Bevölkerung können durch geringsten Dissens in Ungnade fallen.
- Dieser Artikel liegt erstmals in deutscher Sprache vor – zuerst veröffentlicht hatte ihn am 01. August 2023 das Magazin Foreign Policy.
Moskau – Einen Monat nach der gescheiterten Meuterei des Chefs der Wagner-Gruppe, Jewgeni Prigoschin, ist Russland auf dem besten Weg von autoritärer Kontrolle zu totalitärer Unterdrückung. Wie zu alten Sowjetzeiten kursieren in Moskau Gerüchte über Säuberungen in der Führungsspitze des Militärs. Auch andernorts dreht sich die Maschinerie der staatlichen Repression immer schneller. Die russischen Behörden werfen ein immer breiteres Netz nach vermeintlichen inneren Feinden aus.
Viele der lautstärksten Antikriegs-Aktivisten sind bereits tot, inhaftiert oder ins Exil gegangen. Die Sicherheitsdienste nehmen jetzt selbst leichte Anzeichen von Dissens ins Visier. Vergangene Woche verhafteten sie den marxistischen Akademiker Boris Kagarlitsky und beschuldigten ihn der „Förderung des Extremismus“.
Sein angebliches Verbrechen: In einem Telegram-Beitrag, den er im Oktober 2022 schrieb, nach dem ersten Angriff der Ukraine auf die Brücke über die Straße von Kertsch, die Russland mit der besetzten Krim verbindet, bezeichnete Kagarlitsky den Angriff als „verständlich“ aus rein militärischer Sicht. Selbst eine neutrale, objektive Bewertung ist also jetzt ein Verbrechen.
Lange Haftstrafen für unliebsame Äußerungen zum Ukraine-Krieg
Russen aus allen Gesellschaftsschichten sehen sich heute mit langen Gefängnisstrafen oder Zwangsarbeit für etwas so Triviales wie einen Beitrag in den sozialen Medien konfrontiert. Nikita Tushkanov, Geschichtslehrer in Mikun, einer Stadt in der nördlichen Republik Komi, wurde zu fünfeinhalb Jahren Arbeitslager verurteilt. Er hatte die Brückenexplosion als „Geburtstagsgeschenk für Putler“ bezeichnet und dabei ein in den sozialen Medien verbreitete Wortschöpfung aus „Putin“ und „Hitler“ verwendet.
Auch Privatgespräche sind verdächtig, wie der ehemalige Polizeibeamte Sergej Klokow feststellen musste, als er zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Er hatte mit ukrainischen Bekannten am Telefon über die Verbrechen der russischen Armee in der Ukraine gesprochen.
Gewöhnliche Russen konnten bisher ihre Meinung äußern – das ist vorbei
Unter Präsident Wladimir Putin ist Russland seit langem ein autoritärer Staat. Die Verfolgung konzentrierte sich jedoch hauptsächlich auf Oppositionspolitiker und Aktivisten, vom ermordeten Oppositionspolitiker Boris Nemzow bis zum inhaftierten Anti-Korruptions-Aktivisten Alexej Nawalny.
Selbst nach der Verabschiedung strenger neuer Zensurgesetze zu Beginn des Ukraine-Kriegs waren harte Gefängnisstrafen nicht sehr häufig. Sie wurden meist als exemplarische Strafen für prominente Dissidenten eingesetzt. Dazu gehörte Ilja Jaschin, ein Oppositionspolitiker, der das Massaker russischer Soldaten im ukrainischen Butscha in einer Reihe von Posts in den sozialen Medien verurteilte. Bisher hatten gewöhnliche Russen aber immer noch reichlich Gelegenheit, ihre Meinung zu äußern – unter sich, in den sozialen Medien oder bei gelegentlichen politischen Protesten in kleinem Rahmen.
Sogar das Senden eines Emojis kann in Russland gefährlich sein
Doch in letzter Zeit hat Russland seine totalitäre Maske abgelegt und toleriert immer weniger jede Art von Dissens. Nicht nur, dass die Verfolgung abweichender Meinungen jetzt offiziell ist – mit neuen Gesetzen, die ausdrücklich jede Kritik an der sogenannten militärischen Spezialoperation in der Ukraine verbieten. Sondern auch ihr Umfang hat sich beträchtlich ausgeweitet.
Zu den Opfern gehören immer mehr normale Russinnen und Russen, und das Vergehen kann so klein sein wie das Posten eines zustimmenden Emojis zu einem kriegskritischen Beitrag in den sozialen Medien. Ähnlich wie im europäischen Totalitarismus des 20. Jahrhunderts sind Kinder heute sowohl Spitzel des Staates als auch Opfer von Unterdrückung: Einige Kinder haben über ihre Lehrer und Eltern berichtet und wurden von ihren Mitschülern oder Lehrern denunziert. Einige wurden auch von ihren Eltern getrennt, die wegen politischen Aktivismus verhaftet wurden.
Russland fällt in kommunistische Vergangenheit zurück – Schulen militarisiert
In einem weiteren Rückfall in die kommunistische Vergangenheit werden die russischen Schulen militarisiert. Staatliche Medien berichteten kürzlich, dass Kinder bald mit einer militärischen Grundausbildung beginnen werden, einschließlich der Ausbildung zum Piloten unbemannter Luftfahrzeuge.
Es gibt sogar Berichte über Zwangsarbeit in Drohnenfabriken, bei der Schüler einer örtlichen technischen Schule in Alabuga (Tatarstan) eingesetzt werden. Die staatliche Propaganda rechtfertigt und idealisiert diese Art der militarisierten Kindheit mit Verweisen auf den Zweiten Weltkrieg, als sowjetische Kinder nach der Schule Artilleriegranaten zusammenbauten und so den Kriegseinsatz unterstützten.
Russland: Liste verbotener Organisationen wird immer länger
Wie in alten Zeiten werden Russen auch heute von der Außenwelt abgeschnitten. Ein neues Gesetz über die Wehrpflicht erschwert es Männern bis 30 Jahren, Russland zu verlassen. Auch der Umgang mit unabhängigen Medien wird beschnitten. Der Kreml begnügte sich nicht damit, die letzten kritischen Journalisten Russlands aus dem Land zu vertreiben. Er erklärte kürzlich auch TV Rain, einen unabhängigen russischen Nachrichtensender, der vom lettischen Exil aus operiert, als „unerwünscht“.
Für Russen ist es nun ein Verbrechen, Links zu Inhalten in sozialen Medien zu posten, von dem Sender stammen. Auch bei Medien wie Meduza, Novaya Gazeta und anderen, die auf der Liste der verbotenen Organisationen stehen, ist das der Fall, und die Liste wird von Woche zu Woche länger.
Russische Bevölkerung könnte bald vom globalen Internet isoliert sein
Russland führt auch Internetkontrollen nach chinesischem Vorbild ein, indem die staatlichen Zensurbehörden den russischen Internetanbietern immer ausgefeiltere Filterprotokolle aufzwingen. Dadurch wird es für Russinnen und Russen immer schwieriger, auf verbotene Websites über Umgehungslösungen wie virtuelle private Netzwerke zuzugreifen, auch bei Medien und sozialen Netzwerken außerhalb des Landes.
Die Aussicht auf eine vollständige Isolierung russischer Nutzer vom globalen Internet ist nun eine reale Möglichkeit, die noch auf einige Testläufe wartet. Als Putin die Idee 2014 erstmals in den Raum stellte, kam sie der Bevölkerung noch wie ein Fiebertraum vor.
Wie üblich wird die Repression von Sündenböcken begleitet. Putins Russland hat die LGBTQ+-Gemeinschaft, die ohnehin zu den am stärksten marginalisierten Gruppen gehört, zum Staatsfeind Nummer eins erklärt. Nicht nur jede Art von Aktivismus oder Selbstorganisation ist illegal, sondern auch das Leben von LGBTQ+-Russinnen und -Russen wird eingeschränkt.
Nicht einmal Befürworter des Ukraine-Kriegs sind in Russland mehr sicher
Da sich das Netz immer enger zieht, sind nicht einmal die glühendsten Befürworter des Ukraine-Kriegs sicher. Dazu gehören rechte Nationalisten, die per Crowdfunding Ausrüstung für die russische Armee finanzieren, eine möglichst harte Behandlung der Ukraine fordern und die russische Militärführung als schwach und unentschlossen beklagen.
Am 21. Juli verhaftete die russische Polizei den prominentesten dieser Stimmen, Igor „Strelkow“ Girkin – einen ehemaligen russischen Geheimdienstoffizier, der von Den Haag wegen Kriegsverbrechen gesucht wird. Ihm wird die Förderung des Extremismus vorgeworfen. Girkin hatte unter anderem auf seinem Telegram-Kanal gefordert, dass die für die Lohnrückstände der Soldaten verantwortlichen Bürokraten der russischen Armee hingerichtet werden sollten.
Die Schwere der Vorwürfe macht es sehr wahrscheinlich, dass Girkin die nächsten Jahre hinter Gittern verbringen wird. Bislang konnten sich die glühendsten nationalistischen Anhänger des Kremls relativ frei äußern und den Kriegseinsatz als nicht konsequent oder völkermordend genug kritisieren.
Totalitarismus in Russland: Zum Ukraine-Krieg einfach nur schweigen reicht nicht mehr
Diese Veränderung deutet auf einen grundlegenden Wandel im Wesen des Regimes selbst hin. Wenn es im Autoritarismus darum geht, die politische Opposition auszuschalten, erfordert der Totalitarismus die totale Gleichschaltung des Einzelnen mit dem Staat. Während man früher von den meisten einfachen Russen erwartete, dass sie sich nicht aktiv gegen die Politik des Staates stellten, reicht bloßes Schweigen nicht mehr aus. Heute wird eine aktive und offene Unterstützung des Krieges verlangt.
Wer sich weigert, an diesen Ritualen teilzunehmen, riskiert, schikaniert, bedroht, geächtet und aus seinem Job gedrängt zu werden. Das musste auch Ekaterina Mikryukova, eine Hausärztin in Moskau, erfahren. Sie hatte sich geweigert, an einer Spendenaktion teilzunehmen, die ihre Nachbarn für einen verwundeten russischen Soldaten organisiert hatten. Inzwischen hat sie Russland verlassen.
Wladimir Putin: Der Aufstieg von Russlands Machthabern in Bildern




Auch russisches Militär wird von Abweichlern gesäubert
Die Unterdrückung im Krieg ist ein nützlicher Deckmantel, nicht nur um lautstarke Gegner loszuwerden, sondern auch um sich die Loyalität der russischen Elite zu sichern. Dazu gehören nicht nur diejenigen, die die Invasion nicht deutlich genug unterstützen, sondern auch diejenigen, die die Invasion wegen ihrer angeblich mangelnden Härte und Rücksichtslosigkeit gegenüber den Ukrainern kritisieren.
In ähnlicher Weise wird auch das russische Militär selbst von tatsächlichen und potenziellen Abweichlern gesäubert. Mehrere wichtige Militärs, die möglicherweise mit Prigoschin befreundet waren, darunter der Oberbefehlshaber der russischen Luft- und Raumfahrtkräfte, Sergej Surowikin, sind aus der Öffentlichkeit verschwunden. Andere wurden von ihren Posten entfernt oder degradiert.
Präsidentschaftswahlen in Russland verschärfen die Lage
Die verstärkte Repression ist auch ein Zeichen für die Nervosität des Regimes im Hinblick auf die für März 2024 angesetzten Präsidentschaftswahlen. Auch wenn die russischen Wahlen offensichtlich gefälscht sind und kein Zweifel daran besteht, dass Putin an der Macht bleiben wird, bringen sie dennoch eine gewisse Unsicherheit in das System.
Die Wahlen im nächsten Jahr werden ein spektakuläres, komplexes Stück politischer Choreografie sein, bei dem auf dem Weg zu der vom Kreml als Mindestziel gesetzten 80-Prozent-Mehrheit für Putin vieles schiefgehen kann. Hier kommt die Verhaftung von Girkin ins Spiel: Wütende Nationalisten, die mit der Art und Weise, wie die militärische Führung den Krieg führt, unzufrieden sind, stellen einen unberechenbaren Faktor dar. In den nächsten Monaten ist damit zu rechnen, dass noch mehr von ihnen verhaftet werden.
Ewiger Krieg in der Ukraine bietet Putin unbegrenzte Möglichkeiten
Das harte Durchgreifen deutet auch darauf hin, dass sich das Regime auf einen längeren Krieg in der Ukraine einstellt. Angesichts mehrfacher militärischer Misserfolge und ohne realistische Aussicht auf einen Sieg scheint sich Putin für die nächstbeste Möglichkeit entschieden zu haben, seine Macht zu festigen. Ein ewiger Krieg in der Ukraine, der den Russen als existenzieller Kampf um die Zukunft ihrer Nation präsentiert wird, bietet nahezu unbegrenzte Möglichkeiten, abweichende Meinungen zu unterdrücken, die Russen hinter dem Regime zu versammeln und auch den leisesten Hauch von Opposition auszurotten.
Zum Autor
Alexey Kovalev ist ein in Berlin lebender Investigativjournalist. Twitter (X): @Alexey__Kovalev
Wir testen zurzeit maschinelle Übersetzungen. Dieser Artikel wurde aus dem Englischen automatisiert ins Deutsche übersetzt.
Dieser Artikel war zuerst am 01.August 2023 in englischer Sprache im Magazin „ForeignPolicy.com“ erschienen – im Zuge einer Kooperation steht er nun in Übersetzung auch den Lesern der IPPEN.MEDIA-Portale zur Verfügung.
