Pulverfass für Moskau
Antisemitischer Mob in Dagestan - „Russland verliert die Kontrolle“
In der russischen Teilrepublik Dagestan sorgt ein mutmaßlich antisemitischer Mob für Aufsehen. Die Region im Nordkaukasus ist nicht nur deshalb ein Riesen-Problem für Moskau-Autokrat Wladimir Putin.
Machatschkala – Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj stellte schnell einen Zusammenhang zwischen den mutmaßlich antisemitischen Vorfällen am Flughafen von Machatschkala in Dagestan und dem Ukraine-Krieg her, den das Regime in Moskau unter immensen Verlusten weiterführt, während es innerhalb der Russischen Föderation zu den nächsten Ausschreitungen kam.
Anti-israelischer Mob in Dagestan: Verliert Russland die Kontrolle?
Russland habe all seine Kräfte mobilisiert, um in seinem schon seit mehr als 20 Monaten andauernden Angriffskrieg besetzte ukrainische Gebiete zu halten, sagte Selenskyj in seiner abendlichen Videoansprache am Montag (30. Oktober): „Doch dabei haben sie ihr eigenes Staatsgebiet mit einem solchen Ausmaß an Hass und Erniedrigung verseucht, dass Russland bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr die Kontrolle über die Ereignisse verliert.“ Es war ein Verweis auf den im Juni gescheiterten Aufstand der Wagner-Söldner.
Im muslimisch geprägten Nordkaukasus war es am Sonntagabend zu beispiellosen antijüdischen Exzessen gekommen, als eine Maschine aus Israel in Machatschkala landete. Eine aufgebrachte Menge stürmte den Flughafen und bewarf Passagiere mit Steinen, es kam zu Tumulten mit Sicherheitskräften, 20 Menschen wurden wohl verletzt. Die Attacke ist indes nur das jüngste Beispiel dafür, warum die russische Teilrepublik Dagestan für Kreml-Machthaber Wladimir Putin ein politisches Pulverfass darstellt.
Dagestan in Russland: Ausschreitungen auf dem Flughafen Machatschkala
Wie die unabhängige oppositionelle russische Online-Zeitung The Moscow Times berichtet, sind anti-jüdische Drohungen in Dagestan mit seinen rund 2,9 Millionen Einwohnern nicht ungewöhnlich. 2007 seien etwa Fenster von Synagogen mit Ziegelsteinen eingeworfen worden, und jüdische Gräber seien damals geschändet worden. Die jüdische Gesellschaft in Dagestan sei von einstmals 30.000 Menschen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 bis heute erheblich geschrumpft. Wohl auf wenige Tausende.
Bilder zeigen, wie der Krieg in Israel das Land verändert




In dem Bericht wird ein russischer Rabbiner namens Ovadya Isakov zitiert. Dieser soll erzählt haben, dass sich die verbliebenen Jüdinnen und Juden in der russischen Teilrepublik nicht sicher fühlten. Sie wüssten aber nicht wohin. Er nannte als Beispiel die südliche Stadt Derbent, wo es seiner Einschätzung nach 300 bis 400 jüdische Familien gebe. Im restlichen Dagestan seien es geschätzt ebenso viele, meinte der Rabbiner demnach. Die nordkaukasische Republik, die an Tschetschenien grenzt, ist ansonsten stark muslimisch geprägt. Bis zu 94 Prozent der Einwohner:innen sollen Muslime sein. Die Wut muslimischer Gesellschaften nach israelischen Angriffen auf den Gazastreifen nach dem Überfall der Hamas entlud sich nun auch hier, am Südrand der Russischen Föderation.
Wie The Moscow Times schreibt, mussten bei den Ausschreitungen am Flughafen 15 Israelis mit einem Militärhubschrauber evakuiert und in Sicherheit gebracht werden. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen. Auf Fotos ist aber ein ebensolcher Militärhubschrauber zu sehen, wie dieser auf dem Rollfeld in der Nähe der gelandeten Passagiermaschine steht. Machatschkala diente den israelischen Reisenden angeblich als Zwischenstopp nach Moskau.
Dagestan im Nordkaukasus: Ständiger Unruheherd in Russland
„Die jüngste Eskalation wird der letzte Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt - die wenigen verbliebenen Juden denken darüber nach, das Land zu verlassen und damit möglicherweise ihre jahrhundertelange Präsenz in der Region zu beenden“, schreibt The Moscow Times. Unabhängig davon: bleibt Dagestan in jedem Fall ein Unruheherd für den Kreml.
Denn: Dort gibt es seit mehr als 25 Jahren immer wieder Terroranschläge gegen Regierungsmitglieder und andere Vertreter des Staates. Moskau gelingt es nur unter großer Mühe, die staatliche Autorität aufrechtzuerhalten. Laut der Nachrichtenagentur dpa sah sich der Kreml zum Beispiel 2012 veranlasst, 30.000 russische Soldaten zu entsenden, um die Kontrolle über die Region samt der Großstadt Machatschkala (rund 600.000 Einwohner) wiederzuerlangen. Zuvor war das Blutvergießen enorm.
So wurde laut russischer Zeitung Kommersant im August 1998 ein einflussreicher Mufti und Gegner der Radikalislamisten bei einem Autobombenattentat ermordet. 2003 und 2009 fielen jeweils von Moskau eingesetzte Minister Attentaten zum Opfer. 2010 soll es zu zahlreichen Terroranschlägen und Entführungen gekommen sein. Und auch der völkerrechtswidrige russische Überfall auf die Ukraine hat wohl für neue Unruhe in der Region gesorgt.
Dagestan in Russland: Etliche gefallene Soldaten im Ukraine-Krieg
Laut Recherchen der Organisation „Mediazona“, einst gegründet von Pussy-Riot-Aktivistinnen, stammen etliche der gefallenen russischen Soldaten aus der Region, wo der durchschnittliche Monatslohn um die 200 Euro liege und ein Vertrag als Zeitsoldat vergleichsweise viel Geld bringe. Die Organisation durchforstet bei ihren Recherchen offen zugängliche Quellen wie Lokalzeitungen oder Todesanzeigen im Internet. Bist zum 19. Oktober 2023 wurden nach Angaben der Organisation 723 Todesfälle von Militärangehörigen aus Dagestan verifiziert, wobei „Mediazona“ darauf hinweist, dass die Dunkelziffer an Gefallenen und Verwundeten sehr viel größer sein dürfte. (pm)