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Ukrainischer Überraschungsangriff
Russland den Ukraine-Krieg in Kursk „spüren“ lassen – ein „Druckmittel?
Die ukrainische Offensive in Kursk setzt sich seit vier Tagen fort. Einige Analysten bewerten sie als riskant. Was könnte das Motiv Kiews sein?
Kiew – Ukrainische Truppen sind bei dem bisher wohl größten Angriff auf russisches Territorium seit Beginn des Ukraine-Kriegs bis zu 10 Kilometer nach Russland vorgedrungen. Doch auch am vierten Tag dieser Gegeninvasion gehen die Meinungen auseinander, was genau Kiew mit dem Vorstoß bezweckt, von dem einige Analysten befürchten, dass er die zahlenmäßig unterlegenen Truppen der Ukraine überfordern könnte.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte am Donnerstag (08. Juli), Ziel sei es, Russland die Folgen seines Krieges „spüren“ zu lassen. „Russland hat den Krieg in unser Land gebracht und sollte spüren, was es getan hat“, so Selenskyj in seiner Abendansprache, ohne dabei direkt auf die Offensive einzugehen. Man habe zudem deutlich gemacht, „dass die ukrainische Armee weiß, wie man überrascht und Ergebnisse erzielt“. Doch welche Ergebnisse hat der ukrainische Präsident dabei im Sinn?
Kursk-Angriff könnte die Lage im Ukraine-Krieg verändern – der Spieß gegen Putin soll umgedreht werden
In den letzten Wochen konnten die russischen Streitkräfte in der Ukraine erhebliche Geländegewinne erzielen. Während Wladimir Putins Truppen dabei militärische Fehler Kiews ausgenutzt hätten, wachse in der ukrainischen Öffentlichkeit die Unterstützung für eine Beendigung des Krieges auf dem Verhandlungswege, so ein Bericht der Financial Times. „Unsere Verteidigung zeigt Risse“, habe sich ein ukrainischer Beamter, der mit den militärischen Operationen vertraut ist, dazu geäußert. Er habe zudem gewarnt, dass die russischen Streitkräfte in Donezk einen „taktischen Erfolg“ erzielt hätten und dass weitere Vorstöße wahrscheinlich seien, wenn sich die Situation nicht ändere.
Wladimir Putins Truppen seien laut Militäranalysten bis auf 15 km an die Garnisonsstadt Pokrowsk und die Außenbezirke des nahe gelegenen Toretsk herangerückt. Sollte es Russland gelingen, eine dieser Städte einzunehmen, werde das die militärische Logistik behindern und die Kontrolle der Ukraine über den Rest der Region bedrohen, so der Bericht. Für die Ukraine sei eine der größten Herausforderungen der letzten Zeit gewesen, auf die russische Strategie der Ausweitung der Frontlinie mit Kämpfen um Charkiw zu reagieren. Die ohnehin stark ausgelasteten Truppen Kiews habe das weiter unter Druck gesetzt. Es sei daher möglich, dass die Ukraine durch den Überraschungsangriff versuche, den Spieß umzudrehen und Putins Soldaten an anderer Stelle einzubinden.
Die Strategie Kiews im Ukraine-Krieg ist in Gefahr – Kann der Kursk-Angriff das noch verhindern?
Diese Theorie hält auch der dänische Militäranalyst Anders Puck Nielsen für möglich. Ihm zufolge rechnet die Ukraine damit, dass die russische Sommeroffensive bald zum Erliegen kommen wird, wie er in einem YouTube-Video vom Donnerstag darlegt. Sollte dies eintreten, könne es sich für die Truppen Kiews zum Problem entwickeln. „Die gegenwärtige Strategie der Ukraine beruht darauf, dass Russland seine Angriffe fortführt“, so Nielsen. Sie setzte darauf, den russischen Streitkräften weiter hohe Verluste zuzufügen, während sich die Ukraine selbst in einer Position der Verteidigung befinde. Sollte es der Ukraine gelingen, sich in dem russischen Gebiet zu verschanzen, verwehre man „den Russen so die Möglichkeit einer Pause“ von der Rolle des Angreifers.
Somit könne der Angriff für die Ukraine auf zweierlei Arten nützlich sein. „Erstens ist er ein Ablenkungsmanöver, weil Russland Ressourcen von den Hauptanstrengungen in Donezk abziehen muss, um die Ukrainer wieder aus der Region Kursk zu vertreiben“, so Nielsen. Andererseits verweigere er den Russen auch nach Ende der Sommeroffensive in Donezk eine „operationale Pause“. In einem breiten Kontext zeige die Operation – genau wie die zunehmenden Attacken mit Drohnen – aber auch, dass sich der Ukraine-Krieg nach und nach mehr auf russischem Gebiet abspielen werde. „Die Ukraine hat diese Angriffe auf Russland als essenziell für die Chance auf eine Beendigung des Krieges zu annehmbaren Bedingungen identifiziert“, so der Analyst weiter.
Kursk-Angriff als „nötiges Druckmittel“ im Ukraine-Krieg – Lage könnte sich für Putin durch Verluste ändern
Auch der ukrainischen Regierung schwebt ein solcher Nutzen offenbar vor. „Das wird ihnen das nötige Druckmittel für die Verhandlungen mit Russland geben – darum geht es“, so ein nicht näher genannter Berater Selenskyjs gegenüber der Washington Post. Mykhailo Podolyak, der ebenfalls den ukrainischen Präsidenten berät, teilt diese Ansicht. „Russland sieht jeden Kompromiss als Zeichen der Schwäche und der Bereitschaft zur Unterwerfung. Verhandlungen können nur dann produktiv sein, wenn sie verstehen, dass der Krieg nicht nach ihrem Drehbuch verläuft“, sagte Podolyak am Donnerstag im ukrainischen Fernsehen. Nur so könne die Sicht der Menschen in Russland auf den Ukraine-Krieg verändert werden.
Auf dem Weg nach Europa: Die Aufnahmekandidaten der EU
Laut dem Militäranalyst Nielsen ist hierfür die Rolle von Wehrpflichtigen in Russland zentral. Aus innenpolitischen Gründen sei Putin mit ihrem Einsatz im Ukraine-Krieg „bisher sehr zurückhaltend“ gewesen, da dies direkt die Familien betreffe und zu Unzufriedenheit führen könne. Die in der Ukraine eingesetzten Soldaten seien Freiwillige; Wehpflichtige würden kaum eingesetzt – in Kursk hingegen schon. Russland müsse dort jetzt entweder Freiwillige einsetzen, die oft aus abgelegenen Regionen und ärmlichen Verhältnissen kämen, weshalb ihr Verlust politisch wenig in Gewicht falle. Diese würden dann an aber anderer Stelle fehlen. Oder Putin riskiere „die Unzufriedenheit mittelständischer Familien“, und deren Unterstützung, wenn ihre Angehörige im Krieg fallen. (tpn)