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Interview vor der Schicksalswahl
Putins Getreue in Georgien warnen vor Krieg: Opposition widerspricht – „Chance genau jetzt“
Georgien steht vor einer Schicksalswahl: Kurs Richtung EU oder Russland? Ein Oppositionspolitiker schildert IPPEN.MEDIA die Lage – und eine große Hoffnung.
Georgien wählt am Samstag (26. Oktober) ein neues Parlament – es könnte eine Schicksalswahl werden: Die Regierungspartei Georgischer Traum ist auf einen prorussischen Kurs geschwenkt und droht die freie Gesellschaft einzuschränken, in teils atemberaubendem Tempo. Doch die Opposition glaubt an die Chance auf einen Machtwechsel in letzter Minute.
Umfragen zeigen großteils eine Mehrheit für die Gegner der Regierung. Stärkste Oppositionskraft könnte die Mitte-Rechts-Partei Vereinte Nationale Bewegung (VNB) werden; mitgegründet hat sie einst Micheil Saakaschwili – er sitzt mittlerweile in Haft. Aus Sicht der Regierung wegen Amtsmissbrauchs, nach Meinung seiner Parteifreunde als politischer Gefangener.
Auch kurz vor der Georgien-Wahl laufen Pro-EU-Proteste: Wladimir Putin und Bidsina Iwanischwili (re.), Milliardär hinter der Regierungspartei, wollen mit Kriegs-Angst dagegenhalten.
Der Sekretär der VNB für Internationales, Surab Tschiaberaschwili, hat IPPEN.MEDIA die Sicht der Opposition auf Chancen und Gefahren rund um die Wahl erläutert. Der frühere Bürgermeister von Tiflis, Ex-Gesundheitsminister und Diplomat verweist Warnungen des Georgischen Traums vor einem Krieg mit Russland bei einem klaren Pro-EU-Kurs ins Reich der Fabel: Angesichts des Ukraine-Kriegs habe Georgien genau jetzt eine Chance auf eine Zukunft in Demokratie und Wohlstand.
Georgien-Wahl und die Angst vor Russland: „Nicht einmal Putin hat so eine Kampagne gefahren“
Herr Tschiaberaschwili, Georgien wählt am Samstag – wie wichtig ist dieser Tag?
Wir sehen diese Wahl als Referendum. Wir werben dafür, Georgien wieder auf den europäischen Pfad zu bringen, Beitrittsgespräche mit der EU zu eröffnen. Die Alternative der aktuellen Regierung lautet, Georgien von Europa, von den USA, von der demokratischen Welt zu isolieren. Diese Wahl ist eine Entscheidung zwischen Europa und der Isolation.
Und einmal mehr spielt Russland eine große Rolle. Nicht zuletzt das Spiel mit der Angst vor Putin.
Ja, die Regierungspartei Georgischer Traum inszeniert die Wahl als Entscheidung zwischen Krieg und Frieden. Sie behaupten, wenn Georgien dem europäischen Weg folgt, sei ein Krieg mit Russland unausweichlich. Und zugleich wirbt das Regime damit, die Opposition, die freien Medien und die Zivilgesellschaft zu verbannen. Putin hat die gesamte Opposition ausgelöscht, Menschen getötet und eingesperrt. Aber selbst er hat keine solche öffentliche Kampagne gefahren. Nicht nur Oppositionsführer, sondern auch -unterstützer will die Regierung verfolgen. Das ist die Situation, in der wir sind.
Erleben Sie denn auch Behinderungen und Hürden im Wahlkampf?
Zunächst: Verglichen mit früheren Wahlen hat sich die Situation für die Opposition sogar dramatisch verbessert. Alle glaubwürdigen öffentlichen Umfragen zeigen, dass die vier großen Oppositionsblöcke mehr Unterstützung haben als der Georgische Traum. Deshalb hat es die Regierung sehr schwer, massive Repressionen oder physische Gewalt anzuwenden – weil sie nicht mehr im großen Stile Unterstützer mobilisieren kann, die Opposition gewaltsam anzugehen. Sporadisch gibt es aber noch Gewalt. Und auch Einschüchterungsversuche, gerade in ländlichen Regionen.
Georgien am Scheideweg: „Für die Oligarchie ist jede Wahl eine Frage von Leben und Tod“
Die größte Gefahr ist, dass Menschen an mehreren Wahllokalen wählen. Aber dagegen gibt es Vorkehrungen. Zum ersten Mal haben wir im großen Stile Wähler-Identifizierungs-Boxen in den Wahllokalen, zudem Wahlurnen, die Wahlzettel zählen. Aber natürlich ist nichts ausgeschlossen. Für die autoritäre Regierung wie für die Oligarchie ist jede Wahl eine Frage von Leben und Tod: Sie können es sich nicht leisten, die Wahl zu verlieren. Da gibt es immer ein Manipulationsrisiko. Deshalb müssen wir wachsam bleiben.
Selbst wenn die Opposition offiziell gewinnen sollte, wäre der Machtwechsel noch nicht in trockenen Tüchern. Auf eine gemeinsame Wahlliste haben sich die Gegner der Regierung ja nicht einigen können ...
Die gute Nachricht ist: Seit mehreren Monaten attackiert sich die Opposition nicht mehr untereinander. Obwohl vier große Blöcke unabhängig voneinander antreten. Wir werben jeweils um unsere eigenen Zielgruppen – und das schafft ein Momentum für die gesamte Opposition. Wenn es um die Regierungsbildung geht … Es gibt in Georgien bislang keine etablierte Praxis von Koalitionsregierungen. Aber ich bin sehr zuversichtlich, dass Gesellschaft und Politik reif genug sind, um die Oligarchie nicht an der Macht verbleiben zu lassen.
Gewaltfreie Machtübergabe nach der Georgien-Wahl? „Das ist eine ernste Angelegenheit“
Angenommen, diese Koalitionsregierung kommt: Auf welche Schritte könnte sie sich einigen?
Die Mehrheit der Georgierinnen und Georgier ist frustriert. Weil die Regierung die Demokratie zurückdrängt. Das beißt sich mit den europäischen Werten der Georgier, das ist sehr offensichtlich. Als Erstes müssen wir die Gesetze abschaffen, die die EU-Beitrittsgespräche untergraben haben. Allen voran das „russische Gesetz“, das im Stile Putins „ausländische Einflussnahme“ ins Visier nimmt. Alle Oppositionsparteien sagen, dass das erste Schritt sein muss. Dann müssen wir die neun Schritte angehen, die die EU-Kommission vorgeschlagen hat, bevor Georgien den Beitrittskandidatenstatus erhalten hat.
Auf dem Weg nach Europa: Die Aufnahmekandidaten der EU
Sie sind zuversichtlich, dass ein friedlicher Machtwechsel möglich ist – ohne Straßenproteste und Momente der Gefahr?
Ihre Frage zielt darauf ab, ob eine friedliche Machtübergabe möglich ist. Tatsächlich hatten wir in 33 Jahren Unabhängigkeit nur einen Machtwechsel auf verfassungsgemäßem Wege. Das war 2012, als sich der Georgische Traum zum Sieger über Saakaschwili erklärte. Auch 2003 gab es einen friedlichen Übergang – aber das war immer noch eine Revolution, die „Rosenrevolution”. Auch deshalb fragt sich die internationale Gemeinschaft, ob die autoritäre Oligarchie die Wahlergebnisse anerkennen wird. Das ist eine ernste Angelegenheit – und deshalb sind die Georgier nicht nur dafür mobilisiert zu wählen, sondern auch ihre Wahl, ihren politischen Willen zu verteidigen. Das gilt gerade für die junge Generation, Sie haben ja die Proteste im April und Mai gesehen. Im Moment ist die Lage ruhig, aber wenn sich die Autoritären weigern abzutreten, sind Straßenproteste möglich.
Besteht nicht die Gefahr, dass die Regierung ein ihr genehmes Ergebnis verkündet und Proteste aussitzt?
Georgien ist weder Venezuela noch Belarus, wo die autoritären Regime eine starke Kommandokette haben. Georgien ist ein Land mit einer lebendigen Zivilgesellschaft, mit einer sehr aktiven jungen Generation. Und deshalb denke ich, auch wenn es das Risiko gibt, dass die Oligarchie die Wahlergebnisse nicht anerkennt: Wir werden in der Lage sein, eine friedliche Machtübergabe zu schaffen. Mit allen seinen üblichen Manipulationshebeln wird der Georgische Traum den Vorsprung der Opposition wohl verringern – aber sie werden es sehr schwer haben, das massiv genug zu tun, um an der Macht zu bleiben. Wir werden bald eine neue Koalitionsregierung haben.
Russlands „Probleme“ im Ukraine-Krieg: Georgische Opposition sieht eine „Chance“
Noch einmal zurück zur Frage nach Krieg und Frieden: Wie begegnen Sie den Warnungen vor einem Konflikt mit Russland?
Natürlich, wir haben auch russische Truppen in den besetzten Gebieten, da gibt es immer ein Risiko. Aber wenn man Russlands Probleme an den Fronten im Ukraine-Krieg betrachtet, in Sachen Manpower, Ausrüstung und Munition, dann bezweifeln wir, dass Russland gerade in einem weiteren Land Unfrieden stiften kann. Deshalb haben wir genau jetzt eine Chance, Georgien zu einem sicheren und starken Staat zu machen – wenn wir die richtigen Reformen ergreifen. Mithilfe der westlichen Verbündeten kann Georgien sicher sein, was auch immer Russland in den kommenden zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahren tun wird. (Interview: Florian Naumann)