Untersuchungsausschuss des Bundestages
Neuer Druck für Scholz bei Cum-Ex: So hart urteilt Experte über seine Erinnerungslücken
Olaf Scholz und Cum-Ex: Durch einen Untersuchungsausschuss des Bundestages drängen sich alte Fragen neu auf. Eine davon kann der Kanzler nicht beantworten.
Köln – Kanzler Olaf Scholz (SPD) wird die Cum-Ex-Affäre einfach nicht los. Der Bundestag berät an diesem Donnerstag erstmals über einen von der Union geforderten Untersuchungsausschuss zur Steueraffäre um die Hamburger Warburg Bank. Eine der drei Kernfragen lautet: Wie kommt es zu den erheblichen Erinnerungslücken, die Scholz in der Sache bislang offenbart hat? Experten sagen, dass diese Erinnerungslücken logisch nicht zu erklären sind.
Die Union hatte bereits angekündigt, zur politischen Aufarbeitung des Steuerskandals einen Untersuchungsausschuss beantragen zu wollen. CDU und CSU verfügen im Bundestag allein über die für die Einberufung eines Untersuchungsausschusses nötige Stimmenzahl von mindestens einem Viertel der Abgeordneten. Die finale Abstimmung darüber wird für Mai erwartet.
Zur Erinnerung: Bei Cum-Ex geht es um Aktiendeals, wobei Steuern erstattet wurden, die man nie gezahlt hat. Die Hamburger Privatbank M.M. Warburg & CO steht im Fokus der Ermittlungen, allein für das Jahr 2009 waren 47 Millionen Euro Rückzahlung fällig. Im November 2016 verzichtete das Finanzamt dann plötzlich auf die Forderung.
Olaf Scholz in der Cum-Ex-Affäre: „Aus medizinischer Sicht ist das nicht glaubwürdig“
In der Folge wurden Tagebucheinträge von Christian Olearius öffentlich, dem Miteigentümer der Bank. Demnach traf er sich im betreffenden Zeitraum dreimal mit Scholz. Der Verdacht: Der Kanzler hat – wie auch andere SPD-Politiker – für die Warburg-Bank lobbyiert. Anfang 2020 räumte Scholz erst ein Treffen ein, ändert aber kurze Zeit später seine Strategie, wie aus dem im letzten Jahr erschienen Buch „Die Akte Scholz“ hervorgeht. Nun konnte er sich an kein Treffen mehr erinnern.
Gereon Nelles überzeugt das nicht. „Aus medizinischer Sicht ist das nicht glaubwürdig“, sagte der Neurologe aus Köln vor einigen Wochen unserer Redaktion. Es gebe Zustände, in denen es zu Gedächtnislücken kommt – sogenannte amnestische Episoden. Dann könne man wie bei einem Filmriss mehrere Stunden nicht rekonstruieren. „Aber während dieser Episode sind Menschen auffällig, sie wirken hilflos und verunsichert, mitunter auch desorientiert. In so einem Zustand kann man unmöglich ein vernünftiges Gespräch führen“, sagte Nelles, der auch im Vorstand des Berufsverbands Deutscher Neurologen sitzt.
Die medizinische Erklärung greift also nicht. Bleibt noch die menschliche Komponente – und Vergessen ist sehr menschlich. Wer weiß schon, was er vor mehr als fünf Jahren in einem Gespräch erzählt hat? Das hängt vom Inhalt ab, sagt der Experte. In dem Treffen mit Olearius ging es mutmaßlich um viel – Millionensummen, Arbeitsplätze und Karrieren. „Ich gehe stark davon aus, dass man das nicht so schnell vergisst“, sagte Nelles.
Rechtsanwalt zu Scholz-Vernehmung: Erinnerungslücken mit gezielter Vernehmungstechnik entlarven
Wie, wann und woran sich jemand erinnern kann, ist nicht nur eine neurologische Frage. Sie hat auch eine juristische Dimension, mit der sich Bertil Jakobson seit Jahren beschäftigt. Er ist Rechtsanwalt, spezialisiert auf die Vernehmung von Zeugen. Dazu hält er sogar Vorträge. Seine Einschätzung: „Man muss differenzieren, wie gut die Erinnerungsleistung von Herrn Scholz bei verschiedenen Aussageteilen und Aussageinhalten war.“ Was er dann ergänzt, lässt die Argumentation des Kanzlers sehr unglaubwürdig wirken: „Sollte es sich so verhalten, dass Erinnerungslücken nur bei bestimmten Bereichen auftauchten, bei anderen hingegen nicht, würde es sich jedenfalls nach meiner Meinung um einstudierte verbale Pirouetten handeln.“
Das erinnert an Scholz’ Argumentation am 19. August vor dem Cum-Ex-Ausschuss. An mehrere Treffen mit den Bankern habe er keine Erinnerung. Im wichtigsten Punkt lässt ihn seine Erinnerung aber nicht im Stich: Auf das Steuerverfahren Warburg habe er keinen Einfluss genommen, es habe keine Vorzugsbehandlung von Herrn Warburg oder Herrn Olearius gegeben. Eine Strategie, die Jakobson bestens bekannt ist: „Häufig wird sich nur gerade an das noch erinnert, was prozessual günstig ist – aber was unangenehm ist, da setzen Erinnerungslücken ein.“
Falls Scholz nicht die Wahrheit sagt, sei das mit „gezielter Vernehmungstechnik“ relativ leicht zu entlarven, glaubt Jakobson. Dafür müsse man vor der Vernehmung allerdings ahnen, an welcher Stelle Erinnerungslücken auftreten. Die Fragen zerlegt man dann in zwei Teile. „Der erste Katalog enthält nur Fragen, die der Zeuge wahrscheinlich ohne Probleme beantworten kann. Der zweite Katalog beinhaltet ausschließlich Fragen, die einen kritischen ‚Hotspot‘ betreffen“, erklärt Jakobson. Der Clou: Man wechselt ohne Vorankündigung von einem zum anderen Katalog. „Es kommt dann oftmals zu einem sehr krassen Strukturbruch inmitten der Aussage.“ Wo der Zeuge Fragen gerade noch ohne Wortfindungsschwierigkeiten, verzögertes Antwortverhalten, gefüllte Pausen („ähm“) beantworten konnte, gibt es dann nur noch verbale Ausweichmanöver.
Cum-Ex-Affäre: Was wusste Scholz zu welchem Zeitpunkt?
Im Ausweichen, dem Nicht-Beantworten von Fragen, sei Olaf Scholz einsame Spitze, werfen seine Kritiker ihm seit Jahren vor. Die entscheidende Frage bleibt so weiter unbeantwortet: Was wusste der Kanzler zu welchem Zeitpunkt? Vergessen sei ein unbewusster Vorgang, sagt Jakobson. Aber: Etwas nicht (mehr) wissen zu wollen, bedeute, dass man genug weiß, um zu wissen, dass man nicht mehr wissen will.
Bisher dreht sich die Debatte vor allem um die Frage, inwiefern Scholz politischen Schaden nimmt. Dabei sind auch juristische Konsequenzen denkbar. „Juristisch betrachtet haben wir es mit einem Aussageverhalten zu tun, das tendenziell auf eine uneidliche Falschaussage hindeutet“, sagt Jakobson. Starker Tobak, der sich allerdings mit einer zentralen Aussage des Enthüllungsbuches des deckt. Dort wird auf den Untersuchungsausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft im Frühjahr 2021 und Sommer 2022 verwiesen. Damals belehrte der Ausschussvorsitzende Scholz: „Ich muss Sie, wie jeden anderen Zeugen auch, darauf hinweisen, dass Sie hier die Wahrheit sagen müssen, dass eine falsche Aussage strafbar ist. Der Tatbestand der uneidlichen Falschaussage sieht eine Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren vor.“