Von den meisten Infektionen erfährt sie nichts
Die Corona-Warn-App ist ein Beschützer mit Sehschwäche
Nur rund jede zehnte Infektion wurde bisher der Corona-Warn-App gemeldet. Gesundheitsminister Jens Spahn ist trotzdem sicher: „Sie nützt was.“ Kritiker beklagen hingegen „ein Trauerspiel“.
- Die Corona-Warn-App steht immer wieder in der Kritik
- Als Problem wird oft der Datenschutz genannt
- Die FDP sieht das anders: Schuld am ausbleibenden Erfolg sei vor allem die Bundesregierung
München - Der Münchner Internist Karlheinz Zeilberger wundert sich: „Früher gab es in unserer Praxis regelmäßig Nachfrage nach PCR-Abstrichen wegen roten Alarmmeldungen der Corona-Warn-App“, sagt der ehemalige Olympia-Arzt. „Doch seit Wochen kam kein einziger Fall mehr, in dem ein Patient wegen einer solchen Warnmeldung einen PCR-Test wollte.“ Und selbst er und sein Praxisteam erhielten zuletzt keine Warnungen, „obwohl wir nachweislich immer wieder mit positiv getesteten Patienten zu tun haben“.
Ähnliche Berichte erreichen den Münchner Merkur zuletzt immer wieder. Pendler, die regelmäßig in S- und U-Bahn unterwegs sind, fragen sich reihenweise, warum sie trotz täglicher Begegnungen keine Warnmeldungen erhalten – nicht einmal solche mit geringem Risiko. Die Ursache dafür dürfte zum einen in den jüngsten Updates liegen. Die App berechnet Risikosituationen seit Mitte Dezember anders, was insgesamt wohl zu weniger Meldungen führt. Zur ganzen Wahrheit gehört allerdings auch, dass der digitale „Begleiter und Beschützer“ (Kanzlerin Angela Merkel) von den meisten Infektionen schlicht überhaupt nichts erfährt.
Nur ein Bruchteil der Infizierten warnt mit der App
Nachlesen kann man das direkt in der App selbst, die zuletzt um eine neue Datenfunktion ergänzt wurde. Darin werden Anfang Februar Warnungen von bisher insgesamt gut 235 000 Personen angezeigt. Dem gegenüber stehen allerdings rund 2 238 000 Neuinfektionen seit Beginn der Pandemie. Kein Wunder also, dass einer Studie zufolge über 95 Prozent der Nutzer bislang noch nie eine Warnung erhalten haben. Schließlich wurde insgesamt auch nur rund jeder zehnte positive Test in der App gemeldet. Auch wenn es die Möglichkeit erst seit Mitte Juni vergangenen Jahres gibt, heißt das: Nur ein Bruchteil der Infizierten warnt auf diesem Weg andere.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) verteidigt die über 25 Millionen mal heruntergeladene App. „Wenn jeder jeden Tag sagt, dass sie nichts nützt, dann glauben alle irgendwann, dass sie nichts nützt.“ Die Wahrheit sei: „Sie nützt was“, sagt er am Mittwoch. Jeden Tag würden etwa 1000 positive Testergebnisse anonym darüber geteilt. Möglich ist das entweder automatisch (mit QR-Code und Einwilligung in der App), oder mit Hilfe einer Verifizierungshotline. „Die Information ist viel schneller bei den Leuten“, sagt Spahn. Dass es in den letzten Wochen weniger Meldungen gegeben habe, sei logisch. „Weil wir alle miteinander weniger Kontakt hatten.“
Ist der Datenschutz das Problem?
Schon länger steht die App in der Kritik. Weil sie nicht auf älteren Geräten läuft, oder weil sie aufgrund strenger Datenschutzregeln wenig Mehrwert für die Gesundheitsämter hat. Der Wirtschaftsrat der CDU forderte deshalb sogar kürzlich einen politischen Neustart für die Anwendung. Menschenschutz müsse vor Datenschutz stehen. Auch Internist Zeilberger hält es für ein Problem, dass Details wie der Ort und der Zeitpunkts eines Kontakts nicht angezeigt werden. „Das wäre aber entscheidend, um Infektionsketten zu unterbrechen.“
Manuel Höferlin (FDP) sieht den Fehler woanders. „Dass die Corona-Warn-App so weit hinter ihren Möglichkeiten zurück bleibt, ist wirklich ein Trauerspiel“, sagt der Vorsitzende des Digitalausschusses im Bundestag unserer Zeitung. Das sei aber nicht etwa dem deutschen Datenschutz anzulasten, sondern „der Schlafmützigkeit der Bundesregierung“. Höferlin bescheinigt Merkels Mannschaft ein „desolates Projektmanagement“. Technisch sei die App gut gemacht. Doch die Regierung habe „durch katastrophale Kommunikations- und Informationspolitik maßgeblich am negativen Image mitgewirkt“. Dass es zudem versäumt worden sei, die Anwendung schon über den Sommer kontinuierlich weiterzuentwickeln, habe „die Skepsis in der Bevölkerung zusätzlich verstärkt“. Ein Missstand, an dem die Bundesregierung dringend arbeiten müsse. Denn gerade, wenn es hoffentlich bald um Lockerungen gehe, „kann die App einen wesentlichen Beitrag zur besseren Kontaktverfolgung und zur Entlastung des Gesundheitssystems leisten“, sagt Höferlin.
FDP sieht größtes Problem bei Laboren
Allerdings liege das größte Problem gar nicht bei der App selbst, sondern darin, „dass die Prozesse hinter der App nicht digitalisiert sind“, sagt Höferlin. Viele Test-Labore seien nämlich immer noch nicht digital angeschlossen oder nutzten den Übertragungsweg einfach nicht. „Jetzt rächt sich, dass die Große Koalition den digitalen Wandel gerade im Gesundheitswesen seit Jahren komplett verschläft“, sagt Höferlin. Damit gelangten positive Testergebnisse immer noch unvollständig in das Meldenetz und gerade unbekannte Kontaktpersonen würden nicht informiert. Auch Arzt Zeilberger macht diese Beobachtung: „Bei über zehn Prozent der PCR-Tests meiner Patienten kam kein Ergebnis auf der Warn-App, obwohl die Betroffenen zuvor den QR-Code des Abstrichs mit ihrem Handy gescannt und die Erfassung bestätigt bekommen haben.“ (Sebastian Horsch und Andreas Beez)