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Interview

„Nordkorea und die Ukraine befinden sich im Krieg miteinander“

Die Ukraine wird von den beiden Atommächten Nordkorea und Russland angegriffen. Sollte sich Kyjiw nun eigene Kernwaffen besorgen?

Im Ukraine-Krieg kämpfen nicht mehr nur russische Soldaten gegen die Truppen Kyjiws: Seit wenigen Monaten schickt auch Nordkoreas Diktator Kim Jong-un Soldaten an die Front. Die Ukraine wird also von zwei Atommächten bedrängt. Was bedeutet das für ein Land, das seine eigenen Kernwaffen freiwillig abgegeben hat? „Es wäre an und für sich gerechtfertigt, dass die Ukraine und ihre Verbündeten nach Pjöngjangs Kriegseintritt direkte Militäraktionen gegen Nordkorea in Betracht ziehen“, sagt Politikwissenschaftler Andreas Umland.

Herr Umland, mit der Beteiligung Nordkoreas am Ukraine-Krieg steht Kyjiw nun zwei Atommächten gegenüber. Welche Folgen hat das?
Die Ukraine verfügt selbst über keine Nuklearwaffen und ist seit 1994 Mitglied des Atomwaffensperrvertrags, der ihr den Erwerb und Bau eigener Kernwaffen untersagt. Und dieses Land wird jetzt von gleich zwei Kernwaffenstaaten angegriffen. Einer davon, nämlich Russland, ist zudem ein Unterzeichner des Atomwaffensperrvertrages. Moskau droht nichtsdestoweniger seit Beginn des Angriffskrieges 2014 und insbesondere seit Beginn der Vollinvasion 2022 regelmäßig damit, seine Nuklearwaffen einzusetzen. Seit 2023 hat Russland einen weiteren Kernwaffenstaat, Nordkorea, in den Krieg hineingezogen, und nun kämpfen sogar nordkoreanische Soldaten an der russisch-ukrainischen Front.
Was bedeutet das?
Wir befinden uns in einer absurden Situation: Das Nuklearwaffenverbot des Atomwaffensperrvertrags führt dazu, dass die Ukraine und die mit ihr verbündeten anderen Nichtkernwaffenstaaten den russischen Atomdrohungen hilflos gegenüberstehen. Eigentlich soll der Nichtverbreitungsvertrag dem Erhalt von Frieden und Schutz vor Nuklearwaffen sowie der Drohung mit ihnen dienen. Er wirkt jetzt aber genau gegenteilig und zum Nachteil eines vormals vollkommen friedlichen und kernwaffenfreien Landes, das vor 30 Jahren sein von der UdSSR geerbtes Atomwaffenarsenal an Russland abgegeben hat. Die Ukraine ist grundlos zum Ziel nicht nur einer massiven militärischen Aggression seitens nunmehr zweier Kernwaffenstaaten, sondern auch von Annexion und Völkermord geworden.

Zur Person

Andreas Umland ist ein deutscher Politikwissenschaftler. Er hat in Cambridge, Oxford, Stanford und Berlin studiert und arbeitet derzeit als Analyst am Swedish Institute of International Affairs. Umland lebt in Kiew.

„Nordkorea und die Ukraine befinden sich im Krieg miteinander“

Was folgt daraus?
Die Ukraine als ein offizieller Nichtkernwaffenstaat soll nach der Vorstellung nicht nur russischer, sondern paradoxerweise auch vieler anderer Politiker als Verlierer aus diesem Krieg mit zwei Atomwaffenstaaten hervorgehen. Die Ukraine soll Territorium oder Souveränität oder gar beides an einen Depositarstaat des Atomwaffensperrvertrages, an Russland, verlieren. Das würde die Logik des Nichtverbreitungsregimes jedoch massiv untergraben. Es macht dann keinen Sinn mehr, sich auf das Völkerrecht zu verlassen. Jeder wäre sich selbst der Nächste, und viele Staaten würden aufrüsten – nicht zuletzt mit Massenvernichtungswaffen. Was daraus folgt? Eigentlich müssen alle – neben Russland – 190 Mitgliedsstaaten des Atomwaffensperrvertrages, wenn sie an seinem Erhalt interessiert sind, die Ukraine nach Kräften unterstützen. Aber die meisten tun das nicht, einige unterstützen sogar Russland.
Wie sollte die Welt auf die Beteiligung Nordkoreas am Ukraine-Krieg reagieren?
Es wäre an und für sich gerechtfertigt, dass die Ukraine und ihre Verbündeten nach Pjöngjangs Kriegseintritt direkte Militäraktionen gegen Nordkorea in Betracht ziehen.
Ist das wirklich eine realistische Option?
Nein. Nordkorea schickt schon seit 2023 Waffen und Munition an Russland, seit ein paar Monaten kämpfen auch nordkoreanische Soldaten auf russischem Staatsgebiet gegen die Ukraine. Damit befinden sich de facto Nordkorea und die Ukraine im Krieg miteinander. Es wäre daher gerechtfertigt, dass die Ukraine Militäraktionen direkt gegen Nordkorea unternimmt. Dasselbe gilt für die Verbündeten der Ukraine. Nur wird das nicht passieren, eben weil Nordkorea Atomwaffen besitzt und die Ukraine sowie die meisten ihrer Verbündeten nicht.

„Die Ukraine hätte mehr fordern können“

Die Ukraine hat 1994 alle auf ihrem Territorium stationierten Atomwaffen abgegeben, im Tausch gegen Sicherheitsgarantien. War das ein Fehler?
Ich denke, es war im Allgemeinen richtig und auch für die Ukraine wichtig, die Atomwaffen abzugeben und sich damit international als friedliebender Staat zu profilieren. Der Fehler war ein anderer: Die Ukraine hat sich damals mit den im Budapester Memorandum so bezeichneten „Sicherheitszusagen“ der USA und Großbritanniens zu billig abspeisen lassen.
Wie meinen Sie das?
Kyjiw hätte mehr fordern können, zum Beispiel einen vollwertigen bilateralen Beistandspakt mit den USA oder auch eine teilweise beziehungsweise vollständige NATO-Mitgliedschaft. 1994 war die NATO-Osterweiterung bereits im Gespräch. Auf diesen Zug hätte die Ukraine damals aufspringen können. Sie hätte fordern können: Wir wollen jetzt ebenfalls NATO-Mitglied werden, ansonsten geben wir nicht all unsere Atomwaffen ab.
Wäre das realistisch gewesen?
Ich denke, die Ukraine wäre mit solch einer Forderung seinerzeit durchgekommen. Denn die verbliebenen Kernwaffen auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetrepubliken waren damals ein großes Thema. Es gab insbesondere im Westen, aber auch anderswo große Sicherheitsbedenken bezüglich der Sprengköpfe im postsowjetischen Raum. Die Ukraine besaß also damals große Verhandlungsmacht. An und für sich wäre es auch im ureigenen Interesse des Westens, ja der gesamten Welt gewesen, die Ukraine in eine verlässliche Sicherheitsarchitektur einzubauen – wie man heute unschwer sehen kann.
Nordkoreas Diktator Kim Jong-un inmitten von Soldaten.

„Wladimir Putins Atomdrohungen sind skandalös“

Heute gibt es vereinzelt Forderungen, die Ukraine wieder atomar zu bewaffnen.
Das ist zu weit von der politischen Realität entfernt, und daher ist auch die Diskussion darum sinnlos. Dennoch macht das Argument als solches in gewisser Hinsicht Sinn: Wenn die Ukraine von den anderen Unterzeichnerstaaten des Atomwaffensperrvertrages nicht hinreichend mit konventionellen Waffen unterstützt wird und sich daher nicht gegen Annexion und Völkermord wehren kann – dann ist die Budapester Vereinbarung von 1994 offensichtlich hinfällig, und die Ukraine wäre befugt, Atomwaffen zu besitzen. Dennoch ist es politisch, technisch und ökonomisch unrealistisch, dass die Ukraine sich nuklear bewaffnet.
Was schlagen Sie also vor?
Wir müssen eine andere Lösung für das entstandene Dilemma finden. Andere Staaten weltweit sehen am Beispiel der Ukraine, wozu es führt, keine Massenvernichtungswaffen zu besitzen: Man wird erst von einem und dann von einem zweiten Atomwaffenstaat angegriffen, obwohl beziehungsweise weil man selbst über keine hinreichenden Abschreckungsinstrumente verfügt. Man ist hilflos und wird letztlich im Stich gelassen. Das könnte andere Länder dazu bringen, sich künftig Massenvernichtungswaffen zur Landesverteidigung zu beschaffen. Vielleicht nicht unbedingt Atomwaffen, sondern eher chemische oder biologische Waffen. Wollen wir das?
Wie ernst müssen wir Wladimir Putins Atomdrohungen überhaupt nehmen?
Diese Drohungen sind skandalös. Sie stehen im flagranten Widerspruch zum Atomwaffensperrvertrag, der klar sagt, dass Nuklearwaffen nicht zur Drohung genutzt werden dürfen. Dennoch: Obwohl Putins Drohungen beunruhigend sind, handelt es sich vor allem um psychologische Kriegsführung. Putin will damit Partner der Ukraine davon abhalten, der Ukraine intensiver zu helfen, also Kyjiw zum Beispiel Taurus-Raketen zu liefern oder die Erlaubnis zu erteilen, westliche Waffen auf russischem Staatsgebiet einzusetzen.

„Sollte Russland Atomwaffen gegen die Ukraine einsetzen, würde sich die Natur des Krieges fundamental ändern“

Was macht Sie so sicher, dass Putin keine Atomwaffen einsetzen wird?
Sollte Russland Atomwaffen gegen die Ukraine einsetzen, würde sich die Natur des Krieges fundamental ändern. Putin will ein Ergebnis erreichen, das er als einen zumindest teilweisen Sieg – militärisch, diplomatisch, politisch oder wie auch immer – verkaufen und zur innenpolitischen Regimekonsolidierung nutzen kann. Sollte er tatsächlich Atomwaffen einsetzen, würde das die Situation unkalkulierbar machen, da sich dann die Positionen aller Akteure radikal ändert. Der sogenannte „Ukraine-Krieg“ wäre dann unversehens ein Konflikt um die Zukunft der Menschheit. So gesehen wäre – auch wenn das zunächst absurd klingt – ein russischer Atomwaffeneinsatz sogar in gewisser Hinsicht im Interesse der Ukraine, da sie danach mit viel mehr Unterstützung rechnen kann.
Sieht man das in Moskau auch so?
Russland weiß um dieses Paradoxon und wird deswegen keine Atomwaffen einsetzen. Moskau will zunächst einen lokalen Sieg in Osteuropa sowie später womöglich weitere Siege – und nicht einen existentiellen Konflikt mit dem Großteil der Welt. Wer immer das Gegenteil behauptet und die Mär von einem nuklearen Dritten Weltkrieg verbreitet, macht Putins schmutziges Geschäft und betreibt Kremlpropaganda. Vielmehr wird eine künftige apokalyptische Eskalation wahrscheinlicher, sollte Russland auf der Gewinnerstraße bleiben und beweisen, dass der Besitz von Massenvernichtungswaffen vorteilhaft und ihr Nichtbesitz von Nachteil ist.

Rubriklistenbild: © KCNA/AFP

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