Eine bekannte Imamin kritisiert, dass Erdogan und die Türkei auch darüber entscheiden, was in Deutschland mit dem Islam passieren soll.
Im Oktober musste die liberale Ibn Rushd-Goethe Moschee in Berlin schließen, weil sie zum Anschlagsziel des „Islamischen Staat“ wurde. Gründerin und Imamin Seyran Ateş kritisiert die Deutsche Islamkonferenz – auch dafür, dass man sie fast nicht eingeladen hätte.
Frau Ateş, wie haben Sie die diesjährige Islamkonferenz erlebt?
Zunächst war ich zum ersten Mal nicht von vornherein eingeladen. Erst etwa eine Woche vorher habe ich eine Einladung bekommen, allerdings mit einer Rückmeldefrist für denselben Tag. Das ist ein Statement. Vor allem, wenn man bedenkt, dass wir seit dem 13. Oktober unseren Moscheebetrieb aussetzen müssen, weil wir vom Islamischen Staat bedroht werden. Das stand in allen Zeitungen, aber trotzdem hat man uns nur kurzfristig eingeladen und unsere Bedrohung mit keinem Wort in den Reden erwähnt. Das verletzt uns.
Warum hat man sie denn erst so kurzfristig eingeladen?
Ich denke, dass ich zu viel Unruhe in die harmonische Vorstellung bringe, dass Muslimfeindlichkeit das wichtigste Thema für den Islam in Deutschland sei. Es scheint nicht zu der Logik der Veranstaltung zu passen, dass Muslime auch von Muslimen bedroht werden. Die deutsche Politik hat ein bestimmtes Bild vom Islam und seinen Normen, das sie durch die Verbände als einzigen Ansprechpartner abgebildet sehen. Damit machen sie es sich aber zu einfach. Denn wenn man sich die Auswahl an Teilnehmern anschaut, sind es offensichtlich Erdoğan und die Türkei und somit mehrheitlich sunnitische Muslime, die darüber entscheiden, was in Deutschland mit dem Islam passieren soll.
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Dieses Interview liegt IPPEN.MEDIA im Zuge einer Kooperation mit dem Berlin.Table Professional Briefing vor – zuerst veröffentlicht hatte es Berlin.Table am 27. November 2023.
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„Es geht der Politik vor allem um die Stimmen muslimischer Wähler“
Haben Sie die Islamkonferenz schon immer so kritisch gesehen?
Die ersten vier Jahre der Deutschen Islamkonferenz waren für mich so entscheidend als Erfahrung, dass ich 2009 beschlossen habe, die erste liberale Moschee Deutschlands zu gründen. Die Deutungshoheit über den Islam nur den Islam-Verbänden und der deutschen Politik zu überlassen, wäre keine gute Idee aus Sicht der liberalen Muslime gewesen. Nach viel Vorbereitungsarbeit – vor allem in Eigenstudium und Recherche – habe ich 2017 dann unsere wunderbare Moschee eröffnet. Und obwohl es uns seit sechs Jahren gibt, haben wir es nicht geschafft, prominent Einzug in die DIK zu nehmen.
Warum nicht?
Wir liberale Muslime wurden in den letzten Jahren komplett ignoriert. Die wenigen Feigenblatt-Einladungen eingeschlossen. Und dieses Jahr genauso! Das ist ein Zeichen der Respektlosigkeit, Ignoranz und Arroganz. Ich kann es gar nicht scharf genug kritisieren. Wenn ich eines gelernt habe in 17 Jahren deutscher Islamkonferenz, dann ist es das: Eigentlich geht es der Politik vor allem um die Stimmen der muslimischen Wähler. Zudem wollen sie krampfhaft „einen Ansprechpartner“. Sie wünschen sich einen „Kirchen-Islam“. So funktioniert aber der Islam nicht.
Finden Sie, dass man sich in Deutschland zu wenig traut, Muslime zu kritisieren?
Ich sage es mal so: Wenn unsere Moschee statt vom IS von einem rechten Mob, urdeutschen Faschisten oder AfD-Anhängern bedroht worden wäre, hätten wir mit Sicherheit eine sehr prominente Position auf der Islamkonferenz bekommen. Viele sehen die Muslime nur als Opfer von Rechts. Ich lebe seit 17 Jahren unter Polizeischutz, weil ich massenhaft Morddrohungen von Muslimen bekomme, aber keine einzige von Neonazis. Deswegen mögen uns viele nicht, denn wer mit uns kooperiert, muss zugeben, dass Muslime auch böse sind und nicht nur Opfer. Diesen muslimischen Opferdiskurs gibt es in allen westlichen Gesellschaften. In diesen Wochen wird dies auf unseren Straßen öffentlich so deutlich wie nie zuvor. Israel erlebt einen bestialischen Angriff auf seine Demokratie, Freiheit und liberale Gesellschaft – aber Opfer sind (radikale) Muslime. Mir tun die Millionen Muslime leid, die vom islamistischen Terror unterdrückt und gerade wieder als Schutzschilde benutzt werden, aber im Diskurs durch das Raster fallen.
„Muslime werden grundsätzlich als Opfer gesehen“
Gilt das auch für die pro-palästinensischen Demonstrationen?
Es gibt weltweit Aufmärsche nicht nur von muslimischen und palästinensischen Menschen, die gegen Israel demonstrieren, Judenhass verbreiten und die Hamas als Freiheitsorganisation bezeichnen. Obwohl das eine Terrororganisation ist, die gerade erst Kinder zerstückelt, Frauen vergewaltigt und bestialisch ein Festivalcamp überfallen hat! Die jungen Menschen in diesem Camp waren linke Israelis, die mit Palästinensern Freundschaft gepflegt und Palästina unterstützt haben. Sogar in dieser Situation gibt es eine Täter-Opfer-Umkehr: Nur weil eine Terrororganisation von Muslimen kommt, wird ihr ein Freibrief ausgestellt, denn Muslime werden grundsätzlich als Opfer gesehen. Minderheiten schützen scheint das Einzige, was politisch links und liberal sein heute noch ausmacht. Egal, ob es in der Gruppe der Minderheiten wiederum große Probleme mit radikalen und extremistischen Kräften gibt, die Frauenrechte und LGBTQI-Rechte nicht akzeptieren. Neben dem Klima ist man eben gut zu Minderheiten. Wenn das weg ist, hat man keine linke Existenzberechtigung mehr.
Es gibt Statistiken, die belegen, dass man mit einem türkischen oder arabischen Namen viel schwerer an ein Jobinterview oder eine Wohnung kommt. Setzen Sie sich auch gegen antimuslimischen Rassismus ein?
Meine Religion, der Islam, ist nicht einer bestimmten „Rasse“ vorbehalten. Daher wehre ich mich gegen den Begriff „Rassismus“. Es gibt Islam- und Muslimfeindlichkeit. Selbstverständlich bekämpfen wir auch das. Keiner, der sich für das Existenzrecht Israels, die Demokratie, Menschenrechte und gegen Islamisten einsetzt, bestreitet, dass es Muslimfeindlichkeit gibt. Menschen mit einem türkischen oder arabischen Namen werden automatisch als Muslime wahrgenommen. Dabei könnten sie ja genauso gut Atheisten oder Christen sein. Diese Perspektive wird komplett ausgeblendet.
Haben Sie selbst denn nie Rassismus erlebt?
Mein Vater ist Kurde gewesen, meine Mutter Türkin. Ich bin mit Rassismus von Türken gegen Kurden groß geworden. Mein Leben lang habe ich Hass von Türken gegenüber Kurden, Aleviten oder Juden gesehen. Teilweise wird der teilweise schon in den Familien anerzogen. In Deutschland habe ich Rassismus immer wieder erleben müssen, weil ich einen türkischen Namen und schwarze Haare hatte. Aber ich habe sehr viel mehr gute Dinge von und mit Deutschen, Christen und Juden erlebt. Aus diesem Grunde war „Opfersein“ nicht meine wichtigste Identität. Ich muss nicht davon überzeugt werden, dass Rassismus existiert. Aber man muss ja nicht das eine tun und das andere lassen. So besteht zum Beispiel auch eine Feindlichkeit gegenüber Deutschen und Konservativen. Und in linken Kreisen ist man sehr feindlich gegenüber Rechten, Hass gibt es also auf allen Seiten. Ich habe mich dafür entschieden, mich für Pluralität und Diversität einzusetzen, auch wenn ich nicht alles gut finde, was anderen gefällt.
„Viele liberale Muslime trauen sich nicht, sich öffentlich zu zeigen“
Wie viele der Muslime weltweit sind Ihrer Einschätzung nach liberal?
Es gibt Millionen. Wenn es die Gewalt nicht gäbe, der sie ausgesetzt sind, wären sie noch viel sichtbarer, gerade in islamischen Ländern. Also muss man sich eher fragen: Wie viele liberale Muslime trauen sich nicht, sich öffentlich zu zeigen und sich für einen liberalen Islam zu engagieren? Unzählige gehen in reguläre, traditionelle Moscheen und beten, aber nur, weil sie keine andere Chance haben, innerlich stehen sie nicht dazu. Wenn sie sich als lesbisch, schwul oder allein schon liberal bekennen, werden sie nicht akzeptiert.
Das ist in Ihrer Moschee anders …
… aber wir sind so gefährdet, dass sich viele Menschen gar nicht trauen, zu uns zu kommen. Die lesen in der Zeitung, dass jemand einen Anschlag verüben wollte, und das macht ihnen natürlich Angst. Wir bekommen sogar heimliche Spenden von Menschen, die ihren türkischen oder arabischen Namen nicht mit einer Spende an uns in Verbindung gebracht sehen wollen, weil sie Angst vor Anfeindungen haben. Sie spenden dann über Fake-Accounts oder Freunde mit deutschem Namen. Einer unserer Imame, der auf dem Bild zu sehen war, als wir die Regenbogenfahne gehisst haben, konnte monatelang nur noch mit Maske und Kappe vermummt auf die Straße gehen. Es gab mehr als 72 Hassvideos in arabischer Sprache, die seinen Namen explizit genannt haben. Das ertragen nicht so viele Leute.
Welche Rolle spielen dabei die Sozialen Medien?
Es ist unfassbar dramatisch, was dort passiert. Aktuell sind die Sozialen Medien die schlimmsten Brandbeschleuniger für einen radikalen und extremistischen Islam. Kürzlich sah ich ein Video von einem Mitglied der Abou-Chaker-Familie. Arafat Abou-Chaker sprach auf TikTok mit dem Salafisten Pierre Vogel und sagte: »Für mich ist Adolf Hitler besser als Netanjahu.« Unzählige junge Menschen sitzen vor ihren Geräten und finden das cool. Auf keinem anderen Medium finden sich die einfachsten Antworten auf die kompliziertesten Fragen. Damit tragen sie einen riesigen Teil zur Radikalisierung bei. Von Leonard Schulz