Foreign Policy
Pistorius statt Scholz: Warum die SPD einen Kanzlertausch erwägen sollte
Bundeskanzler Olaf Scholz ist äußerst unpopulär – und der beliebte Verteidigungsminister Boris Pistorius steht bereits in den Startlöchern.
- Bundeskanzler Scholz und Verteidigungsminister Boris Pistorius (beide SPD) verbindet einiges – und trotzdem streiten sie scharf über die mögliche Verteidigung Deutschlands
- Anders als Scholz erfreut sich Pistorius wachsender Beliebtheit. Der Verteidigungsminister gilt als geradlinig, während Scholz von vielen als unentschlossen wahrgenommen wird.
- Pistorius wird immer wieder als ein Nachfolger von Olaf Scholz gehandelt. Die Meinungen dazu sind in der SPD sind aber sehr gespalten.
- Dieser Artikel liegt erstmals in deutscher Sprache vor – zuerst veröffentlicht hatte ihn am 20. Juni 2024 das Magazin Foreign Policy.
Auf den ersten Blick haben der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz und sein Verteidigungsminister Boris Pistorius viel gemeinsam. Die beiden langjährigen Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei (SPD), beide Mitte 60, wurden auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges in derselben Stadt geboren, nämlich in der alten Marktstadt Osnabrück in Norddeutschland. Während Scholz zum Bürgermeister von Hamburg aufstieg, übernahm Pistorius den Posten im Osnabrücker Rathaus. Von dort ging Scholz als Finanzminister der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel in die Bundesregierung, Pistorius wurde Innenminister in Niedersachsen. Und Pistorius wie Scholz – eigentlich wie ihre Partei insgesamt – sahen lange Zeit in den freundschaftlichen Beziehungen zu Wladimir Putins Russland das beste Mittel, um die Stabilität in Europa zu gewährleisten, auch noch lange nach der russischen Annexion der Krim 2014.
Doch heute, im Zentrum der schmerzhaften Debatte über Verteidigung und Sicherheit in Deutschland, stehen die beiden Männer mit ihren Stilen und Prioritäten in krassem Gegensatz zueinander – und auch die Einschätzung der deutschen Öffentlichkeit geht rapide auseinander.
Der wortgewaltige Pistorius, ein Falke im Kampf gegen Russland und beim Wiederaufbau der deutschen Streitkräfte, sonnt sich derzeit im Glanz des (mit Abstand) populärsten deutschen Politikers. Sein selbsternanntes Image ist das eines Machers, der direkt sagt, was er will – und es auch tut. Was die Leute an Pistorius mögen, so die Süddeutsche Zeitung am 13. Juni, ist, dass er ein „geradliniger Schütze“ ist, der den Deutschen zutraut, komplizierte Sachverhalte zu verstehen, wenn sie in einfacher Sprache erklärt werden.
Scholz gilt als zu unentschlossen und versteht sich als „Friedenskanzler“
Der nüchterne Scholz hingegen wirkt unentschlossen, zwiespältig und zweideutig. Scholz versteht sich als „Friedenskanzler“ und gleichzeitig als Eckpfeiler des NATO-Bollwerks gegen Russland. In der Öffentlichkeit ist Scholz zu einem der unbeliebtesten Spitzenpolitiker des Landes abgestürzt, nachdem seine Partei bei den Wahlen zum Europäischen Parlament vom 6. bis 9. Juni spektakulär abgestürzt war. Sie erhielt miserable 14 Prozent der Stimmen, womit die SPD hinter der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland (AfD) landete.
Das schlechte Abschneiden von Scholz und das Fiasko der zerstrittenen Drei-Parteien-Koalition haben Spekulationen genährt, dass Pistorius und nicht Scholz der bessere Kanzlerkandidat im Jahr 2025 wäre. Wären heute Wahlen, würden SPD, Liberale und Grüne eine parlamentarische Mehrheit kläglich verfehlen. Die Deutschen sind mit der Arbeit der Koalition und der faden Führung von Scholz deutlich unzufrieden.
Führende Sozialdemokraten, darunter auch Pistorius, bestreiten vehement, dass sie über eine Ablösung von Scholz nachgedacht haben (sie müssen es natürlich). SPD-Mitglied und stellvertretender Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Niels Annen, sagte gegenüber Foreign Policy: „In den höheren Ebenen der SPD ist davon keine Rede. Es wäre nicht das erste Mal, dass man die Kanzlerin unterschätzt. Die Wahlen im Herbst 2025 sind noch viel zu weit weg, um Olaf Scholz abzuschreiben.“
Pistorius krempelt das Verteidigungsministerium komplett um
Und doch, so schlecht steht es um die derzeitige Regierung, besteht eine reale Chance, dass Scholz nicht wieder antritt - und wenn nicht, wer könnte dann besser in seine Fußstapfen treten als Deutschlands neuer Lieblingspolitiker?
Pistorius‘ Umschwung im Verteidigungsministerium war auf jeden Fall beeindruckend. Scholz berief Pistorius auf den Posten, um Christine Lambrecht zu ersetzen, eine hochrangige SPD-Beamtin, die an der Mammutaufgabe scheiterte, das dysfunktionale, unterfinanzierte und unterbesetzte deutsche Militär nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 zu sanieren. Innerhalb der Streitkräfte selbst, so Insider, war das Vertrauen in Lambrecht gleich Null. Zu Lambrechts Verteidigung ist zu sagen, dass der Posten in Deutschland lange Zeit ein undankbarer Posten war, der durch magere Budgets und deutsche Hemmungen belastet war. Dennoch schien sie, eine Nichtexpertin ohne militärischen Hintergrund, besonders ungeeignet zu sein, eine unvorbereitete Armee zu führen, die plötzlich auf einen ausgewachsenen Krieg an der Ostgrenze der EU reagieren musste.
Pistorius beschafft 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr
Pistorius übernahm das Amt im Januar 2023 und wurde damit beauftragt, die von Scholz ausgerufene Zeitenwende für das deutsche Militär, seine Antwort auf die russische Invasion 2022, mit Leben zu füllen. Pistorius wurde mit nicht weniger als der Aufgabe betraut, die Bundeswehr zu einem Militär zu machen, das tatsächlich in der Lage ist, eine Bedrohung der deutschen Sicherheit abzuwehren. Obwohl Scholz kurz nach Beginn der Invasion ankündigte, dass ein einmaliger Sonderfonds in Höhe von 100 Milliarden Euro – mehr als das Doppelte des jährlichen Verteidigungshaushalts – das Unterfangen finanzieren würde, ging er nicht auf Einzelheiten ein und sagte auch nicht, was geschehen würde, wenn dieser Fonds erschöpft wäre. Aber Deutschland, so versprach Scholz, werde nicht länger hinter den 2 Prozent seines Haushalts für die Verteidigung zurückbleiben, wie es die NATO seit langem von ihren Mitgliedsstaaten verlangt hatte.
Pistorius krempelte die Ärmel hoch und forderte, dass die deutschen Streitkräfte „Abschreckung, Effektivität und Einsatzfähigkeit“ bieten sollten. Einen Monat nach seinem Amtsantritt ist der Großteil der 100 Milliarden Euro ausgegeben: für neue Bestellungen von F-35-Kampfjets, Kampfpanzern, schweren Transporthubschraubern (die zum Leidwesen der Franzosen größtenteils aus den Vereinigten Staaten und nicht aus Frankreich stammen) sowie für eine Digitalisierungsoffensive zur Modernisierung der Streitkräfte. Die Ausrüstung der Truppen – von der Bewaffnung bis hin zur persönlichen Ausrüstung, die lange Zeit ein wunder Punkt war – wurde verbessert, was Pistorius eine Glaubwürdigkeit bei den Streitkräften verleiht, die seine jüngsten Vorgänger nicht hatten.
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Verteidigungsminister Pistorius geht zaghaft die Frage nach der Wehrpflicht an
Annen ist sich bewusst, dass sich Deutschland in militärischen Fragen lange Zeit unwohl gefühlt hat – ein Erbe des Zweiten Weltkriegs und der Nazi-Diktatur – und dass Pistorius der erste Verteidigungschef ist, der sich traut, Dinge wie „Wir müssen bis 2029 kriegsbereit sein“ zu sagen. Annen sagte, Pistorius habe in kürzester Zeit das Ansehen der Bundeswehr in der Öffentlichkeit wiederhergestellt.
Die Wehrpflicht ist ein weiteres Tabu, das Pistorius – wenn auch zaghaft – gebrochen hat. Am 13. Juni stellte er ein neues Wehrdienstmodell für Deutschland vor, dessen Ziel es ist, bereits ab 2025 jährlich 5.000 Wehrpflichtige zu rekrutieren und die Truppenstärke schrittweise von 180.000 auf 200.000 Soldaten zu erhöhen. Dabei handelt es sich nicht um eine Wehrpflicht im eigentlichen Sinne, sondern um eine Kampagne, mit der alle 18-jährigen Männer und Frauen angesprochen und dazu gebracht werden sollen, aus eigenem Antrieb zu den Streitkräften zu gehen. (Nur Männer sind verpflichtet, ihr Interesse zu bekunden.)
„Daraus mache ich keinen Hehl“, sagte Pistorius am 13. Juni. „Ich würde gerne jedes Jahr 20.000 Wehrpflichtige ausbilden.“ Aber nicht nur, dass sich zu wenige junge Deutsche dafür interessieren, er gab auch zu, dass die Bundeswehr nicht die Kapazität hat, 20.000 Jugendliche zu Soldaten auszubilden. Irgendwann, so Pistorius, sollen auch die deutschen Frauen in die Wehrpflicht einbezogen werden.
Nach EU-Wahldebakel: Kann Pistorius Scholz im Zweifelsfall ersetzen?
Mit der Starthilfe allein gibt sich Pistorius nicht zufrieden - und stößt dabei auf seinen Parteifreund Scholz. Pistorius fordert, dass der Verteidigungshaushalt über die derzeit für 2025 vorgesehenen 52 Milliarden Euro hinaus erhöht wird. Gegenüber Bundesfinanzminister Christian Lindner sagte Pistorius, er brauche bis zu 6,5 Milliarden Euro mehr, nicht zuletzt für 35 neue Leopard-Panzer. Lindner, der Hüter der im Grundgesetz verankerten Schuldenobergrenze, lehnte ab - und Scholz stellte sich hinter seinen Finanzminister.
Inoffiziell soll Pistorius daraufhin ausgerastet sein: „Ich muss diesen Job nicht behalten!“ Danach kühlte er sich ab und leugnete jede Rücktrittsabsicht. Aber er ist nicht der einzige Sozialdemokrat, der darauf beharrt, dass Schuldenbeschränkungen in einer Zeit, in der es so viele konvergierende Krisen und eine stagnierende Wirtschaft gibt, Wahnsinn sind. Beobachtern zufolge könnte dieser Streitpunkt die Koalition zum Scheitern bringen und vorgezogene Neuwahlen nach sich ziehen.
Schon vor dem Debakel bei der EU-Wahl gab es Gerüchte, dass Pistorius 2025 auf dem SPD-Ticket für den Spitzenplatz kandidieren könnte. Die Hürden dafür sind jedoch beträchtlich, selbst wenn Pistorius das wollte, was wir nicht wissen. Zum einen gibt es viele Sozialdemokraten, die die deutsche Verteidigungs- und Sicherheitspolitik noch nicht vollständig überdacht haben.
SPD steckt in den größten Schwierigkeiten seit 25 Jahren
„Sie schwelgen noch immer in den alten Zeiten von Willy Brandt, den sie für einen Friedenskanzler halten“, erklärt Christian Mölling, Sicherheitsexperte bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, einem Think Tank mit Sitz in Berlin. „Die alten Antworten aus der Vergangenheit: Versöhnung und Entspannung, das kann nicht falsch sein, das ist der feste Glaube in der SPD-Parteibasis.“ Scholz versuche, diese Wählerschaft in seinem Lager zu halten, indem er den Friedenskanzler spiele, so Mölling, aber auch, weil er keine andere Idee habe, wie er Sicherheit gestalten könne.
Zudem hatte Pistorius nie eine starke Anhängerschaft oder eine ihm treu ergebene Fraktion innerhalb der Partei. Als die SPD 2019 (nach dem verheerenden EU-Wahlergebnis) in Bedrängnis geriet, kandidierte der niedersächsische Minister zusammen mit der sächsischen Ministerin Petra Köpping für den Parteivorsitz in einem engen Feld. Das Duo landete mit nur 14,4 Prozent der Stimmen auf dem fünften Platz. Es bleibt unklar, ob sich innerhalb der „Friedenspartei“ eine kämpferische Fraktion gebildet hat, die Pistorius‘ neueste Inkarnation unterstützt. Der Tenor in den eigenen Reihen lässt jedoch darauf schließen, dass dies nicht der Fall ist.
Vielleicht gelingt es der SPD mit Pistorius, sich aus der Asche zu erheben
Die SPD steckt derzeit in großen Schwierigkeiten, vielleicht in den größten ihrer vielen Schwierigkeiten der letzten 25 Jahre. Sie hat jetzt das Echtzeit-Desaster einer großen Partei vor Augen. Nämlich der Demokratischen Partei in den Vereinigten Staaten, die einen unpopulären Kandidaten aufstellt, der sehr wohl scheitern könnte, weil andere in der Partei nicht wagten, darauf hinzuweisen, dass der König keine Kleider trägt. Die Sozialdemokraten haben noch etwa ein Jahr Zeit, um das Schlimmste abzuwenden – und vielleicht gelingt es ihnen mit einem geeigneten Nachfolger, sich aus der Asche zu erheben.
Zum Autor
Paul Hockenos ist ein in Berlin lebender Journalist. Sein jüngstes Buch ist Berlin Calling: A Story of Anarchy, Music, the Wall and the Birth of the New Berlin (The New Press).
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Dieser Artikel war zuerst am 20. Juni 2024 in englischer Sprache im Magazin „ForeignPolicy.com“ erschienen – im Zuge einer Kooperation steht er nun in Übersetzung auch den Lesern der IPPEN.MEDIA-Portale zur Verfügung.
Rubriklistenbild: © Kay Nietfeld/dpa

