„Mangel an Vertrauen“ in seine Versprechen
Mobilisierungswelle in Russland: Putin gehen die Soldaten aus
Mittlerweile dauert der Ukraine-Krieg schon über 700 Tage. Russland kämpft mit Personalmangel – im Krieg wie in der Wirtschaft. Geht Putin das Personal aus?
Moskau – Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin: Für Moskau wird es offenbar zunehmend schwierig, für Personalnachschub zu sorgen. Der britische Geheimdienst stellte jüngst eine steigende Zahl von Brandanschlägen gegen Rekrutierungsbüros in Russland fest. Die Geheimdienstler führen dies auf die wachsende Unzufriedenheit in der Gesellschaft mit dem Ukraine-Krieg und mangelndes Vertrauen in Präsident Wladimir Putin zurück. Die innen- und außenpolitischen Interessen des Kreml widersprechen sich zunehmend.
Angriffe auf Rekrutierungsbüros in Russland: „Mangel an Vertrauen“ in Putins Versprechen
Russland verlor seit Beginn seiner Invasion in der Ukraine mindestens 120.000 Soldaten, wie die New York Times im vergangenen Sommer unter Berufung auf US-Regierungskreise berichtete. Darüber hinaus sollen zwischen 170.000 und 180.000 verletzt worden sein. Mittlerweile dürften diese Zahlen deutlich höher liegen. Putins Truppe hat Personalbedarf, doch eine Ausweitung der Kampfkraft soll ohne eine allgemeine Mobilisierung erreicht werden – vorerst. Nach der Präsidentschaftswahl im März könnte der Kremlchef seine Strategie im Inland womöglich ändern.
„Eine weitere Mobilisierung wäre ein Widerspruch zu Putins Versprechen an seiner Jahrespressekonferenz vom 14. Dezember 2023, dass es keine weitere Mobilisierung geben wird“, so die Analyse im täglichen Geheimdienstbericht des Verteidigungsministeriums in London am Sonntag (28. Januar). Die zunehmenden Angriffe auf Rekrutierungsbüros in Russland würden höchstwahrscheinlich einen Mangel an Vertrauen in dieses Versprechen nahelegen, hieß es aus London weiter. Auch auf russischen Straßen regte sich zuletzt vereinzelt Widerstand gegen den Krieg, der Kreml reagierte mit einem neuen Gesetz zur Enteignung von Kriegsgegnern.
Wegen Ukraine-Krieg: Russlands Wirtschaft leidet unter Arbeitskräftemangel
Russland gibt mittlerweile 40 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes für den Krieg in der Ukraine aus. Das berichtete die US-Denkfabrik Institute for the Study of War am Samstag unter Bezugnahme auf Telegraph. Die russische Rüstungsindustrie habe neben der Qualitätskontrolle auch mit Arbeitskräftemangel zu kämpfen, so die ISW-Experten. Fehlende Arbeitskräfte sind jedoch nicht nur ein Problem der Rüstungsindustrie. „Es sind praktisch keine Hände mehr zum Arbeiten da“, sagte jüngst Putins Zentralbank-Chefin Elvira Nabiullina über die russische Wirtschaft.
Durch den Ukraine-Krieg fehlen dem Arbeitsmarkt schätzungsweise mehr als eine Million Menschen. Manche, weil sie für den Kriegsdienst eingezogen wurden. Andere, weil sie nach Bekanntwerden der Teilmobilisierung in Russland ins Ausland flohen. Dazu kommt, dass es viele zu gutbezahlten Jobs in der Rüstungsindustrie oder zu Stellen in Staatsunternehmen zieht, die zwar weniger Geld, aber einen Schutz vor Rekrutierung bringen. Das Soldaten-Gehalt wird im Vergleich unattraktiver. In Putins Krieg zu sterben, lohnt sich nicht mehr.
Bis 2030 fehlen russischem Arbeitsmarkt bis zu vier Millionen Menschen
Im vergangenen Jahr konnte Russland ukrainischen Angaben zufolge dennoch 385.000 neue Soldaten rekrutieren. Immer wieder gibt es auch ISW-Berichte über die weitere Entsendung privater russischer Söldnertruppen in die Ukraine. Laut unbestätigten Angaben des russischen Verteidigungsministers Sergej Schoigu gibt es 25 Millionen Reservisten in Russland. Bis 2026 wolle man die Armee von 1,15 Millionen auf 1,5 Millionen Soldaten vergrößern, hieß es Anfang vergangenen Jahres. „Es ist unklar, ob das russische Militär in der Lage sein wird, innerhalb von drei Jahren so zu wachsen, wie Schoigu es beschrieben hat“, urteilten die ISW-Kriegsexperten damals.
Putin könnte bald auch an die Grenzen des heimischen Arbeitsmarktes stoßen. Das Defizit an Arbeitskräften werde bis 2030 zwischen zwei und vier Millionen Menschen betragen, schätzt die Moskauer Unternehmensberatung Yakov und Partners. In den vergangenen fünf Jahren hätten sich die Löhne verdoppelt, so die Experten von Yakov weiter. Gleichzeitig sei die Zahl der offenen Stellen in diesem Zeitraum um 80 Prozent gestiegen.
Personalmangel auch in der ukrainischen Armee: Militärspitze fordert, „bis zu 500.000 Kräfte“ zu mobilisieren
Die Ukraine hat wohl ebenfalls ein Personalproblem. Im Sommer vergangenen Jahres bezifferte die New York Times die Anzahl der gefallenen ukrainischen Soldaten mit 70.000. Zudem seien 100.000 bis 120.000 verletzt worden, hieß es. Die Militärspitze in Kiew hatte Ende vergangenen Jahres vorgeschlagen, „450.000 bis 500.000“ Kräfte zu mobilisieren, wie der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj Ende Dezember bei seiner Jahresend-Pressekonferenz mitteilte. Der Präsident selbst zeigte sich davon zunächst nicht überzeugt. Er brauche „mehr Argumente, um diese Idee zu unterstützen“, so Selenskyj damals.
Die Rekrutierung neuer Kräfte geriet zuletzt auch wegen struktureller Probleme in Stocken. Bei einer Überprüfung der Wehrämter in der Ukraine hatte man im vergangenen Jahr außerdem enorme Korruption festgestellt. Daraufhin ließ Selenskyj die Leiter aller 24 Ämter demonstrativ feuern. „Man kann auch sagen, dass die Mobilisierung zusammengebrochen ist“, sagte der Offizier Roman Kostenko, Sekretär des Verteidigungsausschusses des ukrainischen Parlaments, bei NV über die Folgen. Ein Stocken der Einberufungen räumte wenig später auch der Oberkommandeur der Streitkräfte, General Walerij Saluschnyj, ein.
