Reportage zum Start in Berlin
Keine „Putin-Knechte“ oder „Kriegstreiber“: Gysi mahnt – der Bundestag will es „nicht verkacken“
Nach kurzem AfD-Geplänkel konnte der neue Bundestag die Arbeit aufnehmen. Alterspräsident Gregor Gysi richtete einen deutlichen Appell an den nächsten Kanzler.
Berlin – Das Eklat-Potenzial war schnell abgebügelt: Die AfD wollte bei der konstituierenden Sitzung des Bundestags am Mittwoch das Amt des Alterspräsidenten für sich abgreifen. Nicht der Abgeordnete mit den meisten Jahren im Parlament, sondern derjenige mit den meisten Lebensjahren – das wäre AfD-Mann Alexander Gauland gewesen – solle die konstituierende Sitzung leiten, hieß es im AfD-Antrag. Alle anderen Fraktionen stimmten geschlossen dagegen. Und der 21. Bundestag konnte sich seinen eigentlichen Aufgaben widmen.
Als Alterspräsident eröffnete Gregor Gysi (Linke) die Sitzung. 1990 war der aus der ehemaligen DDR stammende Politiker erstmals in den Bundestag eingezogen – seit 30 Jahren und neun Monaten sitze er nun im Parlament, so Gysi: „Alle anderen aus den Alten Bundesländern zu überholen, war nicht einfach, aber ich hab‘s geschafft.“
Neuer Bundestag konstituiert sich: Gysi nimmt sich 38 Minuten Zeit für seinen Appell
38 Minuten Zeit nahm er sich für seine Eröffnungsrede. Grundtenor: Gysi warb vor allem für ein Mehr an Miteinander. Er forderte alle Abgeordneten auf, andere Standpunkte zu respektieren – und inhaltlich wie sprachlich wieder näher an die Bürgerinnen und Bürger zu rücken: „Im Übrigen müssen wir alle ehrlicher werden“, sagte der 77-Jährige.
Mehr Verständnis wünsche er sich auch bei den ganz großen Themen wie Krieg und Frieden: Politiker, die jetzt auf Aufrüstung als Abschreckung gegen Wladimir Putin setzten, „dürfe man niemals Kriegstreiber nennen, denn sie wollen auf ihrem Wege ja den Frieden sichern“. Vertreter einer Minderheit, die Aufrüstung ablehne – das gelte auch für ihn selbst – dürfe hingegen niemand als „Putin-Knechte“ bezeichnen. „Wenn wir mehr Glaubwürdigkeit bei der Bevölkerung erreichen wollen, sollten wir in unserer Sprache das Maß wahren, nicht immer bei Menschen mit anderer Auffassung das Übelste unterstellen“, so Gysi.
Gysi zum Bundestags-Start: Nächster Kanzler soll sich bei Ostdeutschen entschuldigen
Eine Botschaft des Linken-Politikers ging direkt an den nächsten Bundeskanzler, der wahrscheinlich Friedrich Merz heißen wird. Nach der Wende habe die Politik sich zu wenig für das Leben der ehemaligen DDR-Bürger interessiert und ihre Leistungen missachtet. „Das einzige, was es ins wiedervereinte Deutschland geschafft hat, ist der Ampelmann, der Sandmann und der Rechtsabbiegepfeil“, rügte Gysi. Dabei sei die Gesellschaft in manchen Punkten – etwa der Geschlechtergerechtigkeit – weiter als der Westen gewesen. Bei vielen Menschen aus Ostdeutschland sitze ein Gefühl der Demütigung bis heute tief. Das berge Konflikte. „Ich erwarte, dass sich die neue Bundeskanzlerin oder der neue Bundeskanzler stellvertretend dafür entschuldigt“, so Gysi.
Was sagen die Abgeordneten des neuen Bundestags? „Dürfen es nicht verkacken“
Wer am Rande der Sitzung mit Abgeordneten ins Gespräch kam, spürte vor allem so etwas wie Hoffnung, dass es nach Jahren des Ampelstreits nun ein gemeinsames Anpacken geben könnte. Grünen-Abgeordnete Ricarda Lang sprach von einem „berührenden Tag“. Paul Ziemiak (CDU) betonte, dass alle Fraktionen vor enormen Herausforderungen stünden, die nun konsequent erfüllt gehörten. Bodenständiger drückte es der SPD-Abgeordnete Serdar Yüksel aus: „Wir dürfen es nicht verkacken“, so Yüksel. Der Bochumer, der viele Jahre Politik im NRW-Landtag hinter sich hat, ist einer von 230 Abgeordnete, die jetzt ganz neu im Bundestag starten.
Eine neue Bundestagspräsidentin hat der Bundestag auch: CDU-Politikerin und Ex-Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner hat nun das zweithöchste Staatsamt inne, gewählt wurde sie mit 382 Ja- und 204 Nein-Stimmen, 31 Enthaltungen und 5 ungültigen Stimmen.
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