Analyse
Israel zögert bei Bodenoffensive –Experte erklärt: Könnte „viele, viele weitere israelische Opfer mit sich bringen“
Die Notstandsregierung von Netanjahu und Oppositionsführer Gantz soll alle Kräfte im Krieg gegen die Hamas bündeln.
Israel geht geführt von einer Einheitsregierung in die zweite Kriegswoche. Vier Tage nach dem Terrorüberfall der Hamas auf Dutzende Gemeinden und Kibbuzim östlich des Gazastreifens mit mehr als 1.200 Toten nahm Ministerpräsident Benjamin Netanjahu seinen früheren Verteidigungsminister Benny Gantz in das sogenannte Kriegskabinett auf. Die fünfköpfige Notstandsregierung werde keine Gesetze oder Beschlüsse verabschieden, die nicht mit dem Konflikt in Verbindung stehen, solange die Kämpfe andauern, sagte Gantz am Mittwoch.
Neben Gantz und Netanjahu gehören dem Gremium, das sich im Rahmen des ministeriellen Ausschusses für Nationale Sicherheit konstituiert hat, drei weitere Mitglieder an, darunter zwei als Beobachter:
- Ministerpräsident Benjamin Netanjahu (Likud)
- Oppositionsführer Benny Gantz (Blau-Weiß)
- Verteidigungsminister Joav Galant (Likud)
- der Minister für strategische Fragen Ron Demer (Likud/Beobachter)
- der frühere Generalstabschef Gadi Eizenkot (Blau-Weiß/Beobachter)
Gantz war von Mai 2020 bis Dezember 2022 Verteidigungsminister. Gegen Ende der zweiten Intifada wurde er als Militärattaché nach Washington versetzt, wo er von 2005 bis 2009 blieb. Von 2011 bis 2015 war er Generalstabschef; 2014 führte er den Krieg gegen die Hamas im Gazastreifen. Die Aufnahme des 64-Jährigen ins Kabinett bedeutet eine Schwächung der rechtsextremen Kräfte in Netanjahus Regierung: Sowohl der Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, wie Finanzminister Bezalel Smotrich sind religiöse Siedler, die seit dem Amtsantritt der Netanjahu-Koalition Ende 2022 auf eine Ballung der militärischen Kräfte im Westjordanland hingewirkt haben.
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Diese Analyse liegt IPPEN.MEDIA im Zuge einer Kooperation mit dem Security.Table Professional Briefing vor – zuerst veröffentlicht hatte ihn Security.Table am 13. Oktober 2023.
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Risiko Geiselbefreiung hemmt Militärs vor Offensive
Die Entsendung von Truppen in ein dicht bebautes städtisches Gebiet ist keine leichte Entscheidung, auch wenn Netanjahu „gewaltige Rache“ für den Hamas-Angriff ankündigt. Giora Eiland, ehemaliger Leiter des israelischen Nationalen Sicherheitsrates, sagt, die Luftangriffe im Gazastreifen „scheinen früheren israelischen Operationen sehr ähnlich zu sein“ – aber diese Taktiken hätten die Hamas in der Vergangenheit nicht neutralisiert.
Eine Bodenoffensive könnte Hamas-Kämpfer effektiver ausschalten und die Befehlskette zerstören, sagte Eiland, fügte aber hinzu: „Die Regierung zögert noch immer, eine solche Initiative zu ergreifen, weil sie viele, viele weitere israelische Opfer mit sich bringen könnte.“ Beim gut dreiwöchigen Einmarsch 2008 verlor Israel neun Soldaten. Im Jahr 2014 stieg die Zahl der getöteten Soldaten auf 66.
Völkerrechtlich problematisch könnte ein Infanterieeinsatz in dicht besiedeltem Ballungsgebiet ebenfalls werden. Dass rund 150 israelische, aber auch US-amerikanische und andere ausländische Staatsbürger in den Händen von Hamas und Islamischem Dschihad sind, macht eine Bodeninvasion für die Militärführung um Verteidigungsminister Galant, Netanjahu und Gantz jedenfalls zum Wagnis.
Heldengeschichten und Sorge um die Geiseln
Am Ende der ersten Kriegswoche herrscht zudem weiter Ungewissheit, ob wirklich alle palästinensischen Kämpfer, die aus dem Gazastreifen auf israelisches Territorium eindrangen, gefasst sind. Im Morgengrauen des 7. Oktober waren es mehr als 2.000, die die Bewohner Dutzender Kibbuzim und Gemeinden überfielen – am jüdischen Feiertag Simchat Tora am Ende des Laubhüttenfests.
Dem Horror dieses Schabbatmorgens fielen mehr als 1.200 Israelis zum Opfer. In manchen Kibbuzim und Gemeinden dauerte es mehr als acht Stunden, bis die Armee eintraf. Heldenstorys wie die von Inbal Lieberman machen die Runde, der Leiterin des Sicherheitsdienstes des Kibbuz Nir Am. Inzwischen sichert die IDF wieder das Gebiet.
Doch längst konnten nicht alle Tunnelausgänge entdeckt werden, die die Hamas für ihren bewaffneten Ausbruch aus dem Gazastreifen nutzte. An dreißig Stellen in der sechzig Kilometer langen Sperranlage schlug sie Schneisen. In einer komplexen militärischen Operation setzte sie mit ein wenig Sprengstoff versehene Drohnen ein, um in Minuten die Kommandokommunikation der israelischen Militärs rund um das seit 2007 von der Außenwelt abgeriegelte Gebiet auszuschalten.
Die Hamas eifert der Hisbollah 2006 nach
Zuletzt gelang ein solcher militärischer Coup der Hisbollah 2006. Mit dem Angriff auf eine IDF-Grenzpatrouille löste sie den zweiten Libanon-Krieg aus – die Verhandlungen bis zur Rückgabe der bei dem Überfall von der Hisbollah getöteten IDF-Soldaten Eldad Regev und Ehud Goldwasser dauerten bis 2008.
Die Kampfhandlungen des neuen Gazakriegs, die an Simkhat Tora mit den größten Massakern an Juden nach 1945 begann, dürften sich bis weit in den November hineinziehen. Überraschen kann die Gewalt keinen: Spätestens seit 2020, als Gantz und Netanjahu das letzte Mal gemeinsam regierten, sind die Todeszahlen in Israel und den besetzten Gebieten stetig gestiegen. Der Krieg mit der Hamas im Mai 2021 war überschattet von jüdisch-palästinensischen Ausschreitungen in israelischen Städten mit gemischter Population wie Haifa, Jaffa, Akko und Nazareth.
Allein 2023 sind in den mehrheitlich arabischen Gemeinden Israels mehr als 140 Menschen getötet worden, im ganzen Jahr 2022 waren es 117. Die Epidemie der Gewalt frisst sich von der Peripherie ins Zentrum des Landes – vor allem aus den jüdischen Siedlungen im Westjordanland. Mehr Tote als in den letzten Tagen der Zweiten Intifada 2005 haben die Vereinten Nationen dort 2022 gezählt, Tendenz steigend.
Das Ausmaß der Gewalt rund um die Freitagsgebete heute Mittag in Jerusalem, Jenin, Nablus und Hebron wird einen Gradmesser bilden, ob der bewaffnete Ausbruch der Hamas am vergangenen Schabbatmorgen ein isoliertes Ereignis bleibt – oder ob es sich zu einer Dritten Intifada mit zweiter Front zu Syrien und Libanon ausweitet.
Rubriklistenbild: © Ariel Schalit / dpa