Analyse
Nach Kalifat-Rufen in Deutschland – Islamwissenschaftler warnt: „Das wäre das Ende der Demokratie“
Kalifat-Rufe bei einer propalästinensischen Großdemonstration sorgen in Deutschland für Diskussionen. Ein Islamwissenschaftler erklärt, was die Demonstranten damit fordern.
Berlin/Essen – Dunkelgekleidete Menschenmassen ziehen durch Essen und schwenken schwarz-weiße Flaggen. Flaggen mit Schriftzügen, die an das Taliban-Regime in Afghanistan oder die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) erinnern. Vor allem aber eines sticht bei den Aufnahmen von der propalästinensischen Großdemonstration wegen des Kriegs in Israels am vergangenen Freitagabend heraus: Einige der Teilnehmer fordern mit Bannern, Plakaten und Rufen ein Kalifat. Sprüche wie: „Das Kalifat ist die Lösung“ und „Eine Einheit. Eine Lösung. Kalifat“, sind zu lesen. Doch was bedeutet es konkret, ein Kalifat in Deutschland auszurufen und was steckt hinter solchen Forderungen.
Ein Kalifat ist ein religiös legitimierter Staat, dessen Oberhaupt ein Kalif ist. „Der Kalif ist in der islamischen Geschichte die Figur des politisch religiösen Führers“, sagt Professor Michael Kiefer, Islamwissenschaftler der Universität Osnabrück gegenüber Ippen.Media. Das Oberhaupt dieser islamischen Regierungsform sieht sich oft als Vertreter oder Nachfolger Mohammeds – der Begründer des Islams.
Islamwissenschaftler Kiefer: „Das ist ein klarer Fall für den Verfassungsschutz.“
Die Demonstranten sind laut Kiefer der Ansicht, dass eine „politisch religiöse Ausrichtung eines Staates die Lösung aller Probleme“ sei. Für Kiefer ist klar: Diese Kalifat-Rufe kommen von einer „extremistischen Gruppe“. Solche Forderungen seien „zutiefst verfassungsfeindlich und ein klarer Fall für den Verfassungsschutz – vermutlich auch für den Staatsschutz“, sagt Kiefer. NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) erklärt bereits am Wochenende, dass die Staatsanwaltschaft ein Video prüfe, das bei der Essener Kundgebung aufgenommen wurde. Es gebe den Verdacht der Volksverhetzung. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) erklärt auf dem Nachrichtendienst X (ehemals Twitter): „Es kann nicht sein, dass auf unseren Straßen offen für ein Kalifat geworben wird.“ Wenn das Bekenntnis zu Israel Staatsräson sei, müsse der Staat auch entsprechend handeln.
Laut Kiefer würden die islamistischen Demonstranten mit einem Kalifat die demokratische Gesellschaft ersetzen wollen. „Für Deutschland wäre das das Ende Demokratie“, sagt Kiefer. Würden die Demonstranten das bekommen, was sie fordern, würde nicht mehr gewählt werden. Um die religiösen Sitten durchzusetzen, wäre in einem Kalifat auch eine Sittenpolizei denkbar. Islamische Sittenwächter kennt man etwa aus dem Iran. Dort kam es immer wieder zu tödlichen Auseinandersetzungen zwischen der Moralpolizei und Frauen, weil sie etwa gegen die Kopftuchpflicht verstießen. Bei der Essener Demo am Freitag wurde laut Polizei eine strikte Geschlechtertrennung vorgenommen.
2014 rief die Terrororganisation IS ein Kalifat aus
Neu sind Kalifats-Ausrufe unter radikalen Islamisten nicht. Im Sommer 2014, lange vor dem Krieg in Israel, rief die Terrororganisation IS in Syrien und im Irak ein Kalifat aus. IS-Anführer Abu Bakr al-Bagdadi wurde zum Kalifen erklärt. In Deutschland eine solche Staatsform auszurufen, zeigt also die Radikalität der Demonstranten in Essen. Dabei gibt es ein wirkliches Kalifat, bei dem die Anführer eigentlich gewählt werden, laut dem Islamwissenschaftler Kiefer aber schon lange nicht mehr.
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