Um Ihnen ein besseres Nutzererlebnis zu bieten, verwenden wir Cookies.
Durch Nutzung unserer Dienste stimmen Sie unserer Verwendung von Cookies zu.
Weitere Informationen
Für die Finanzierung unseres journalistischen Angebots sind wir auf die Anzeigen unserer Werbepartner angewiesen.
Klicken Sie oben rechts in Ihren Browser auf den Button Ihres Ad-Blockers und deaktivieren Sie die Werbeblockierung für
. Danach können Sie gratis weiterlesen.
Lesen Sie wie gewohnt mit aktiviertem Ad-Blocker auf
Jetzt für nur 0,99€ im ersten Monat testen
Unbegrenzter Zugang zu allen Berichten und Exklusiv-Artikeln
Lesen Sie nahezu werbefrei mit aktiviertem Ad-Blocker
Sie haben das Produkt bereits gekauft und sehen dieses Banner trotzdem? Bitte aktualisieren Sie die Seite oder loggen sich aus und wieder ein.
Folter, Massengräber, Vergewaltigung
„Frieden“ mit Putins Russland in der Ukraine? Nobelpreisträgerin warnt: „Besetzung ist Krieg“
Die Rufe nach „Frieden“ in der Ukraine werden lauter. Menschenrechtlerin Oleksandra Matwijtschuk warnt vor einem Trugschluss – und Russlands Terror.
München – Oleksandra Matwijtschuk ist die wohl prominenteste Menschenrechtlerin der Ukraine: 2022 erhielt sie den Friedensnobelpreis – mit ihrer Organisation „Center for Civil Liberties“ dokumentiert sie seit Jahren Tod, Gewalt und Übergriffe. Zuerst rund um die versuchte Niederschlagung des Euromaidan, später auch Verbrechen im Donbass, auf der Krim und in Russlands eskaliertem Ukraine-Krieg.
Wie blickt Matwijtschuk auf Rufe nach Friedensverhandlungen und einem Kompromiss mit Russland? Im Interview mit IPPEN.MEDIA am Rande eines Termins nahe München schildert die 40-Jährige eindringlich, teils emotional, die Lage der Menschen in der Ukraine. Besetzung sei nur eine andere Form von Krieg, folgert Matwijtschuk aus ihrer jahrelangen Arbeit – und erläutert, warum ein Kriegsverbrechertribunal aus ihrer Sicht so außerordentlich wichtig ist.
„Russland hat Terror gegen Zivilisten etabliert“
Frau Matwijtschuk, Deutschland debattiert heftig über Hilfen für die Ukraine. Meist geht es dabei aber um die Frage, wie Russlands Reaktion aussehen könnte. Ich würde Sie gerne zunächst fragen: Wie geht es den Menschen in der Ukraine?
Vielen Dank für diese Frage! In den scharfen geopolitischen Debatten ist es wichtig, die menschliche Dimension nicht zu vergessen. Mein Leben und das von Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern hat sich mit der großangelegten Invasion völlig verändert. Alles, was ein normaler Alltag war, ist komplett verschwunden. Im Krieg zu leben bedeutet, keine Ahnung zu haben, ob man am Morgen wieder aufstehen wird. Krieg ist eine Lotterie – vielleicht wird das eigene Wohnhaus in der Nacht von einer Rakete getroffen werden. Der Krieg bedeutet stetige Angst um die Liebsten.
Das ist die Lage in weiten Teilen der Ukraine. Wie sieht es in den von Russland besetzten Gebieten aus?
Dort ist es noch viel schlimmer. Um Kontrolle über die Regionen zu erlangen, hat Russland Terror gegen Zivilisten etabliert. Die Russen haben bewusst eine Minderheit lokal aktiver Menschen ausgelöscht – etwa Journalisten, Bürgermeister, Freiwillige, Geistliche, Umweltaktivisten, Lehrer; jegliche Form von Aktivisten in der Gesellschaft. Sie bringen ukrainische Kinder nach Russland in Umerziehungslager, um sie „als Russen“ zu erziehen.
„Frieden“ im Ukraine-Krieg: „Besetzung ist Krieg, nur in einer anderen Form“
Aus Ihren Erfahrungen und Recherchen: Was bedeutet das für die Menschen?
Sie leben in einer Grauzone. Sie haben keine Mittel, um ihre Rechte, ihre Freiheit, ihr Leben, ihren Besitz, ihre Kinder und Liebsten zu schützen. Und deshalb sage ich ganz klar: Besetzung ist Krieg, nur in einer anderen Form. Sie mindert menschliches Leiden nicht, sie macht es nur unsichtbar. Bei einer Besetzung geht es nicht nur um den Wechsel einer Staatsflagge – sie bedeutet Folter, Vergewaltigung, Entführungen, Negierung der eigenen Identität, Kindesentzug, Filtrationslager und Massengräber.
Russland hat zwei Ziele. Es will die Energieinfrastruktur in der Ukraine zerstören. Wahrscheinlich werden mehr als zwei Millionen Menschen das Land verlassen: Es ist sehr schwer, in modernen Städten ohne Heizung, Wasser, Strom und Licht zu überleben. Und es will psychologischen Terror ausüben.
Richten wir den Blick zurück auf das Ringen um Hilfen und Erlaubnisse zum Einsatz westlicher Waffen in Russland für die Ukraine – und Rufe nach Friedensverhandlungen. Wie blicken Sie auf den Streit?
Sehen Sie: Russland greift jeden Tag mit voller Absicht zivile Ziele an. Erst vor einer guten Woche ist eine Familie in Lwiw nahe der polnischen Grenze gestorben, eine russische Rakete traf ihr Haus. Nur der Vater überlebte, seine Frau und drei Kinder sind tot. Eine russische Rakete braucht 42 Sekunden, um etwa eine Schule in Charkiw zu treffen. Das ist nicht genug Zeit, um Kinder in Sicherheit zu bringen. Das ist der psychologische Terror gegen Zivilisten. Und deshalb ist es so wichtig, dass die Ukraine Flugfelder in Russland angreifen darf, von denen Raketen, Flugzeuge und Drohnen starten.
„Erinnern Sie sich an die Bilder aus Butscha? Das ist es, was Russland mit Unbewaffneten tut!“
Die Ukraine hat ein legitimes Recht, sich zu verteidigen. Aber mit bloßen Händen ist das sehr schwer, gerade gegen einen enormen Angreifer wie Russland. Erinnern Sie sich an die Fotos aus Butscha? Die Getöteten waren unbewaffnet. Das ist es, was Russland mit Unbewaffneten tut! Aber wenn die Ukraine um Waffen bittet, erleben wir immer dieselbe Geschichte: Erst heißt es ‚Nein, ihr werdet keine modernen Panzer bekommen.‘ Oder keine F16-Jets. Nach einem oder zwei Jahren kommt diese Hilfe dann doch. Ich bin sicher, dass sich auch diese Entscheidung ändern wird – aber die Zeit drängt.
Warum ist der Druck so groß?
Das Problem ist, dass Zeit für die Menschen in der Ukraine eine andere Bedeutung hat als für die Menschen in Deutschland oder Frankreich. Denn wir sind im Krieg, Zeit setzt sich im Krieg in enorme Todeszahlen um, auf den Schlachtfeldern, im Hinterland, in den besetzten Gebieten. Politikerinnen und Politiker erklären die Verzögerungen und Weigerungen mit der Sorge vor einer Eskalation. Aber Russland hat bereits alle roten Linien überschritten. Russland will die Welt überzeugen, dass ein Staat mit großer militärischer Schlagkraft und Atomwaffen Grenzen verschieben kann. Wenn es damit Erfolg hat, ermutigt das andere autoritäre Staaten in aller Welt, dasselbe zu tun.
Angst vor Putins Atomwaffen: „Nicht-Eskalations-Politik wird in eine für alle gefährliche Welt führen“
Auf das Stichwort „Eskalation“: Die Sorge vor einem Atomschlag ist gerade in Deutschland groß. Können Sie das verstehen?
Ich habe Empathie mit diesen Menschen, denn sie wollen nicht akzeptieren, dass die bisherige Realität am Ende ist. Das gesamte System von Frieden und Sicherheit der Vereinten Nationen ist ruiniert. Ich weiß nicht, wie künftige Historiker diese Phase nennen werden. Aber klar ist: „Nicht-Eskalations-Politik“ wird in eine Welt führen, die für alle gefährlich ist, ohne Ausnahmen. Alle Diktatoren haben eins gemeinsam: Sie verstehen nur die Sprache der Stärke.
Russland feuert Raketen auf Kinderkrankenhaus in Kiew: Fotos zeigen erschütternde Szenen
Sie fordern auch Strafverfolgung für russische Kriegsverbrechen. Warum ist das so wichtig – und ist es überhaupt ein realistisches Ziel?
Als die Groß-Invasion startete, haben wir ein nationales Netzwerk lokaler Dokumentatoren errichtet. Im ganzen Land, inklusive der besetzten Gebiete. Seither haben wir 80.000 Kriegsverbrechen dokumentiert. Bombardements auf Wohngebiete, Schulen, Kirchen und Museen, Angriffe auf Evakuierungskorridore, Folter, Entführung von Kindern nach Russland; Raub, Vergewaltigung und Mord an Zivilisten. Diese Hölle, mit der die Ukraine jetzt konfrontiert ist, ist Resultat der Straflosigkeit, die Russland seit Jahrzehnten genießt.
Verbrechen im Ukraine-Krieg: „Warum tun die Russen so etwas? Weil sie es können“
Inwiefern?
Russland hat Kriegsverbrechen in Tschetschenien, Moldau, Georgien, Mail, Libyen, Syrien und anderen Ländern verübt. Russland glaubt, es kann tun, was auch immer es will. Wenn mich Menschen fragen, warum Russen absichtlich einen zivilen Pkw mit einer Mutter und ihren Kindern angreifen, obwohl sie selbst grünes Licht für das Verlassen der Gefahrenzone gegeben haben, dann habe ich nur eine Antwort: Weil sie es können. Weil sie noch nie bestraft wurden. Deshalb müssen wir den Teufelskreis der Straflosigkeit durchbrechen. Und ja, das ist eine schwierige Aufgabe. Aber wir können nicht warten. (Interview: Florian Naumann – Teil 2 des Gespräches u.a. zu Deutschlands Rolle im Ukraine-Krieg lesen Sie am Mittwoch hier)