Tod von Nahel M.
Rassismus und Gewalt: Schwere Vorwürfe gegen Frankreichs Polizei – Paris weist sie alle zurück
Im Rahmen der Ausschreitungen in Frankreich werden alte Vorwürfe wieder laut: Die Polizei sei rassistisch. Was ist an den Anschuldigungen dran?
Paris – Nachdem ein Polizist in Nanterre den 17-jährigen Nahel M. im Rahmen einer Verkehrskontrolle aus nächster Nähe auf dem Fahrersitz eines Autos erschossen hat, kommt es in Städten in ganz Frankreich zu Protesten und Ausschreitungen. Der Fall rückt bekannte Probleme wieder in den Fokus der Öffentlichkeit.
Vor allem in den Pariser Vorstädten wie Nanterre, wo Nahel M. lebte und getötet wurde, war die Stimmung aufgrund wirtschaftlicher Benachteiligung und Perspektivlosigkeit ohnehin aufgeladen. Ein Großteil der Bevölkerung dort hat einen Migrationshintergrund, lebt in prekären Verhältnissen. Der Tod von Nahel M. war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte – wieder einmal.
Ausschreitungen sind in den Banlieues nichts Neues. Schon 2005 waren nach dem Tod zweier junger Männer Proteste eskaliert. Für die eine Seite sind die Krawalle ein Ausdruck der Wut, die durch mangelnde Chancen und Diskriminierung durch den Staat entsteht. Die andere Seite führt sie auf Zerstörungslust zurück und sieht rassistische Vorurteile bestätigt. Erneut ist in Frankreich die Debatte entbrannt, ob die Polizei rassistisch handelt.
Frankreich: Angst vor der Polizei steigt
Seit 2017 gilt in Frankreich ein umstrittenes Gesetz, das es Beamten erlaubt, bei einer „Befehlsverweigerung“ zur Waffe zu greifen, selbst wenn keine unmittelbare Gefahr droht. Zwar sollten die Beamten ihre Schusswaffe nur in „absolut notwendigen“ Situationen abfeuern, es reicht aufgrund einer Klausel für den Straßenverkehr jedoch aus, wenn die Beamten eine künftige Straftat vermuten. Heißt: Gehen die Polizisten davon aus, dass die Insassen auf ihrer Flucht einen Angriff auf ihr eigenes Leben oder das Leben anderer verüben könnten, dürfen sie schießen.
Die Zahl der Todesfälle bei dieser Art der Polizeieinsätze hat seitdem zugenommen. Allein im Jahr 2022 hat die Polizei 13 Menschen in ihrem Auto getötet. Laut dem Kriminologen Sebastian Roché handle es sich bei den Toten überproportional um ethnische Minderheiten, auch wenn die Polizei in Frankreich die entsprechenden Hintergrundinformationen zu den Opfern nicht veröffentlicht, sagte er der Regionalzeitung La Voix du Nord. Laut Roché ist die französische Polizei „die tödlichste in Europa“, sagte er der Zeit. Aufgrund solcher Fälle wie bei Nahel M. steige die Angst der Leute vor der Polizei – was dafür sorge, dass sie zum Beispiel bei einer Verkehrs- oder Personenkontrolle lieber fliehen, anstatt sich mit den Beamten auseinanderzusetzen.
Der Politikwissenschaftler Jacques de Maillard pflichtet Roché bei: „Das sich verschlechternde Verhältnis zwischen der Polizei und jungen Männern der Arbeiterklasse, die ethnischen Minderheiten angehören, ist ein Schlüsselelement der Situation in Frankreich“, sagte er der Deutschen Welle.
Rassismus bei der Polizei: Menschenrechtsorganisationen fordern Frankreich zum Handeln auf
Demonstrantinnen und Demonstraten warfen der Polizei gegenüber verschiedenen Medien vor, vor allem nicht-weiße Personen ins Visier zu nehmen. Das Europäische Netzwerk gegen Rassismus (ENAR) teilte der Deutschen Welle mit, dass der Tod von Nahel M. „dringende Frage über den übermäßigen Gebrauch von Gewalt seitens Gesetzeshütern aufwirft“. Vor allem gegenüber Gruppen, die von rassistischen Klischees betroffen seien. ENAR rief Frankreichs Regierung auf, auf die Sorgen von Menschenrechtsorganisationen bezüglich rassistischer Polizeiarbeit einzugehen.
Laut der unabhängigen Behörde „Défenseur des droits“ (deutsch: Verteidiger der Rechte), deren Existenz in der französischen Verfassung verankert ist, werden junge dunkelhäutige oder Männer mit nordafrikanischem Hintergrund 20 Mal eher einer Personenkontrolle unterzogen als der Rest der Bevölkerung. Dieselbe Behörde kritisiert, dass es für die Betroffenen keinen Weg gibt, gegen unbegründete Kontrollen, Beleidigungen oder Prügel durch Beamte Beschwerde einzulegen.
Polizist erschießt 17-Jährigen – dann brennen in Frankreich die Vororte




Das UN-Menschenrechtskommissariat rief Frankreich auf, „sich ernsthaft mit den tiefgreifenden Problemen des Rassismus und der Rassendiskriminierung bei der Strafverfolgung auseinanderzusetzen“. Doch Frankreich wehrt sich gegen die Vorwürfe. Das Außenministerium in Paris teilte mit, dass „jede Anschuldigung bezüglich Rassismus oder struktureller Diskriminierung bei der Polizei in Frankreich völlig unbegründet“ sei.
Frankreich dementiert Rassismus bei der Polizei – doch rechtes Gedankengut dominiert
Fraser McQueen, Professor für Französische Studien an der Universität Edinburgh, sagte gegenüber France24, dass dieses Leugnen „unverschämt“ sei. Das Rassismus- beziehungsweise Diskriminierungsproblem in der Polizei sei Schlichtungsbehörden in Frankreich sowie Nichtregierungsorganisationen national und international bekannt. „Diese Idee, dass es keinen strukturellen Rassismus gibt, ist einfach inkorrekt. Es ist falsch“, wird er zitiert.
McQueen verweist auf Statistiken der Präsidentschaftswahl 2022. Laut einer Umfrage des Instituts Cluster17 hätten 39 Prozent der Polizistinnen und Polizisten sowie Militärangehörigen für die islamophobe Rechtspopulistin Marine Le Pen gestimmt, 25 Prozent für den extrem Rechten Éric Zemmour. Rechtes Gedankengut bei der französischen Polizei lasse sich also nicht dementieren. Politikwissenschaftlern und Aktivisten zufolge hänge struktureller Rassismus in Frankreich mit der kolonialen Vergangenheit zusammen. Prinzipien wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit galten für die Menschen in Algerien nicht – was auch heute noch nachhallt. Viele der Leute in den Banlieues haben einen algerischen Hintergrund.
Frankreich: Polizeigewerkschaften sehen sich mit Randalierenden im „Krieg“
Stellungnahmen einiger französischer Polizeigewerkschaften scheinen jedenfalls nicht zur Deeskalation beizutragen. Die „Alliance Police nationale“ sowie „Unsa Police“ sprachen in einer Mitteilung von „Krieg“ gegen randalierende „Schädlinge“. „Angesichts dieser wilden Horden reicht es nicht mehr aus, zur Ruhe aufzurufen, man muss sie erzwingen.“ Weiter hieß es: „Morgen befinden wir uns im Widerstand, das muss der Regierung bewusst werden.“
„Unsere Kollegen, wie auch die Mehrheit der Bürger, haben es satt, unter dem Diktat dieser gewalttätigen Minderheiten zu leiden“, heißt es weiter. Die beiden Gewerkschaften vertreten rund die Hälfte der Polizeibeamtinnen und -Beamten in Frankreich.
Der linke Politiker Jean-Luc Mélenchon kritisierte die Vertreter der Polizei: „Die Gewerkschaften, die zum Bürgerkrieg aufrufen, müssen lernen zu schweigen. Wir haben die mörderischen Verhaltensweisen gesehen, zu denen solche Äußerungen führen. Die politische Macht muss die Polizei wieder unter Kontrolle bringen. Diejenigen, die Ruhe wollen, sollten kein Öl ins Feuer gießen“, schrieb er auf Twitter. Auch die Grünen-Politikerin Marine Tondelier schrieb auf Twitter von einem „strukturellen Problem in der Polizei“. Der Text der Polizeigewerkschaften sei ein „Aufruf zum Bürgerkrieg“.
Politikwissenschaftler wie Fabien Jobard sagen, dass die französische Polizei aggressiver vorgehe als die deutsche. „Polizeigewalt ist in Frankreich viel verbreiteter als in Deutschland“, sagte der Franzose dem WDR. In den Banlieues seien bei der Polizei „grundsätzlich konfrontative Handlungsmuster“ zu erkennen. Hinzu komme laut Jobard ein „gewisser Grad an Missachtung, der zu Gewalt führen kann“. Auch Johannes Maria Becker von der Universität Marburg beobachte „einen gewissen Rassismus bei den französischen Sicherheitskräften“, der historisch gewachsen sei. „Das hat etwas mit der kolonialen Vergangenheit zu tun und ist auch der Grund dafür, dass der Rassismus stärker gegenüber den nordafrikanischen Staaten ausgeprägt ist“, sagte er im Gespräch mit Ippen.Media.
Verbessern ließe sich die Situation in den wirtschaftlich abgehängten Vierteln laut Fabien Jobard nur schwer. Gerade die Polizeigewerkschaften hätten kein Interesse daran, etwas zu ändern. Auch die Politik habe kaum Handlungsspielraum. (lrg/afp)
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